Heft 
(1991) 52
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sich im Kirchturm verbarrikadierenden Brandstifterin den betäubten Selbstmör­der Gutzkow zu sehen. Da er auch wußte, wie ernst Ludwig solche Auseinander­setzung nahm (und wohl seine Korrespondenz für den Nachlaß aufbewahrte), hat Fontane nicht nur ihm, sondern auch uns zugeflüstert, daß seine Grete Minde in kritischem Andenken an Schillers Erstlingsdrama und Gutzkows Ausgang entstanden ist.

Somit ist zwar unsere Ausgangsfrage, jedoch die formkünstlerische noch nicht ausreichend beantwortet. Betrachtet man die Zeugnisse samt der Aufregungen über Gutzkow - zuerst die Frage, wie seine Rezension ausfallen wird, dann die aufwühlende Nachricht über dessen Tod -, so sieht man kein Anzeichen eines Nachgebens in formkünstlerischen Fragen bei einer äußerst gereizten Erwar- tungshaltung. - Diese empfindliche Unnachgiebigkeit ergibt sich vermutlich aus der Zwangslage, gleichzeitig das aktuelle Produkt verteidigen zu müssen, wäh­rend seine Lösungen bereits überwunden werden, um eine bessere zukünftige Rezeption zu sichern. Daß die Anerkennung für diese gelungene Leistung länger auf sich warten ließ als die geschäftliche Anerkennung, mußte die Er­folgsmeldungen so unmutig ausfallen lassen. Die Rezensionen zu Grete Minde fielen dann tatsächlich viel wärmer aus als die zu Vor dem Sturm. 38 Trotzdem zeigt unsere literaturpsychologische Analyse 39 im Vergleich zu beinah allen bisher erschienenen Interpretationen, daß Fontanes neuartige künstlerische Be­handlung nicht nur den Weg zurück zu seiner Biographie, sondern auch das rechte Verständnis für seine Leistung und seinen Erfolg eher erschwert als erleichtert hat. Dafür mußte die Novelle manch unverdiente Schelte hinnehmen. Der Einwand unschlüssiger Psychologie hat m. E. keine Begründung in der Charakterdarstellung, sondern eher in der Identifikation des Lesers mit der Heldin, da er in seinen Sympathien völlig auseinandergerissen wird. Selbst wer klammheimlich mitbrandstiften möchte, wird bei der Vorstellung abgeschreckt, auch die Kinder sollen mitsterben. Wir sahen, wie Kindheitsidylle und eigent­liche Handlung schon in Fontanes begleitenden Opus-Phantasien auseinander­klaffen: einerseits Jünglingsträume, andererseits aktuelle Betroffenheit. Aber möglicherweise ist es diese Schocktherapie, die das Buch unter Durchschnitts­lesern so beliebt, dagegen unter Bildungsbeamten so suspekt gemacht hat.

Auf einen Nenner ist die Novelle, wenn man die autorenpsychologischen Hinter­gründe kennt, erst recht nicht zu bringen. Allerdings müßte der Vorwurf des Historismus als oberflächliche Lesart erledigt sein. Zeitgeschmack und Gehalt können seltsame Ehen eingehen. Betrachten wir bei Kenntnis der Zusammen­hänge Grete Minde vielmehr als eine Vorahnung von Efti Briest und als fulmi­nante dichterische Erklärung, in die loyale Opposition gegangen zu sein.

Fußnoten

1 HB III, 12 (= Sämtliche Werke Abt. IV, Briefe - Hrsg. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger - München: Hanser Verlag, seit 1976).

2 Uriel Acosta wurde durch Fontane rezensiert am 3. 9. 1872 (ohne Bewer­tung des Stückes). 30. 1. 1879 (kritische Auseinandersetzung), 14. 2. 1879, 20. 5. 1879, 1. 3. 1886.

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