Heft 
(1991) 52
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solcher philologischer Einwand die Kontinuität und Konstanz des Fontaneschen Bilddenkens gefährlich zu unterschätzen.

Deutsches Haus und deutsche Sitte" ... Wie steht es jedoch um das deutsche Haus" wirklich? Daß dessen Segen reichlich schief hängt, ist offenkundig, liegt es vielleicht an... der deutschen Sitte! Aber der Reihe nach. Der Reise- und Kriegsreporter Fontane hatte 1864 bei der Besichtigung schleswigscher Herren-Häuser einen Eindruck gewonnen, der jene Gegend gleichsam als doppelbödigen Tummelplatz des Dämonischen erscheinen ließ: All die Schlös­ser dieses Landes haben einen verwandten Charakter... Alles so glau, so unschuldig, und dabei ist doch etwas unheimlich Märchenhaftes um diese wei­ten, sonnenbeschienenen Wände her, daß man denken möchte, hier sehen Gespenster zu Mittag aus allen Fenstern heraus . 22 Das schrieb der Berichterstatter anläßlich einer Visite Gravensteins - der Alternative zum dann gewählten Glücksburg, das in jeder Beziehung den sprechenderen Na­men trug. Ist das nicht die Atmosphäre des von Christine so geliebten alten Steinhauses der Holks mit seinem Spuk, für das die Gräfin eine nicht zu bannende (!) Vorliebe hegt? (S. 8, 10) Asta und Elisabeth erleben bei ihrem Besuch auf dem benachbarten Friedhof die Gespenster des Mittags in wahr­haft panischem Schrecken. Ihr - gleich zweimal erzählter Aufenthalt (S. 53 f., 63) - fällt nämlich in die hohe Zeit" (S. 58) der mittäglichen Geisterstunde, in jene schlechte Stunde von elf bis zwölf", in derSpuk sichtbar, oder, was zumeist der Fall ist, bloß hörbar wird, vor allemauf Kreuzwegen und Friedhöfen. 23 Und der Spuk meldet sich prompt mit dem herabpoltern­den Gruftstein - gerade an dem unheimlichen Platz (S. 54), dem Christine nahe sein' wollte (S. 10), weil er die Ruhestätte ihres dritten Kindes war. - Es steht zu vermuten, daß der Friedhof am Schloß noch ein größeres Geheim­nis birgt alsKruses Grab" und daß auch hinter derweißen, glauen, unschul­digen Fassade der Gräfin Holk das Infernale am Werke ist. Sie wäre dann nicht dieAntithese' zu Ebba, dem gefallenen Engel (S. 180), sondern nur ihr »in der Wolle gefärbtes Gegenstück. Zwar scheint sie zunächst jenen von Heine beschriebenentrübsinnigen, mageren, sinnenfeindlichen .. . Judäismus der Nazarener" 24 zu vertreten, gegen den - und hierin läge dann der Konflikt - diehellenische Heiterkeit, Schönheitsliebe und blühende Lebenslust", die auf sehr gemäßigte Weise Holk verkörpert, von Anfang an keine Chance ha­ben. Aber schon Heine sprach vomReiz des geheimen Unterschleifs, der moralischen Konterbande" bei denSklaven der nazarenischen Abstinenz"; und Christines Betroffenheit von der ersten Strophe des durchausunchrist­lichen' WaiblingergedichtsDer Kirchhof" gewährt einen Blick hinter die Maske des Nazarenertums.Wer haßt, ist zu bedauern, / Und mehr noch fast, wer liebt." ... Der Gräfin Reaktionen (S. 33, 51) auf diesen und den folgen­den Vers sind als Eingeständnis zu begreifen, wie wenig die aufgebotenen Abwehrmechanismen gegen ihre Leidenschaft auszurichten vermochten. Chri­stines Begehren geht deshalb jene dunkle masochistische Verbindung mit dem Selbsthaß ein, die als melancholische Todessehnsucht ihren Weg unbeeinfluß­bar bestimmt:Die Ruh ist wohl das Beste / Von allem Glück der Welt." Das

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