Heft 
(1991) 52
Seite
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Gespräch über den hier beschriebenen Zusammenhang der Verse, das ihr so­gareine Träne" abzwingt (S. 51), findet zur gleichen Stunde statt, wie der Besuch der Mädchen auf dem Friedhof! Mutter und Tochter werden gleichzei­tig von den Wirkungen eines Geheimnisses eingeholt, um das nur die Mutter weiß; - es geschieht dies am Tag des Seelenführers und Erzengels Michael - im Volksaberglauben zu einem ausgesprochenen Hexentag umfunktioniert -, und auch Holk hat seine »Hexenbotschaft', den Brief des Seelen (ver)führers Pentz, der ihn mit Sündflutanspielungen u. ä. ins Sündenbabel Kopenhagen lockt, an jenem 29. September 1859 schon erhalten .. .

Warum aber hat es die Gräfin nötig, gegen ihre Leidenschaft einen aus­sichtslosen - Kampf zu führen? Im Verhältnis zum Grafen jedenfalls war ihr die Stillstellung der Leidenschaft längst gelungen. » Christine hat mich von sich weg erkältet ... Eine Frau soll eine Temperatur haben, ein Temperament und Leben und Sinne. Aber was soll ich mit einem Eisberg?" (S. 223) Das drasti­sche Zeugnis des »hautnah" Betroffenen wird durch ihre Beschreibung der Gefühle für ihn - sie freut sichüber sein gutes, liebes Gesicht und möchte auf ihn zufliegen und ihm sagen: .Bester Holk.. ." (S. 69) - eher bestätigt als widerlegt. Ein Liebesleben des ungleichen Paares hat es seit geraumer Zeit nicht mehr gegeben. Nun ist es denkbar, daß Fontane, den das Phänomen ehelicher Frigidität stets interessierte, in der Figur der Christine einen sol­chen Fall - nach der Geburt der Kinder sindSpiel und Tanz" 25 vorbei - zu zeichnen beabsichtigte. Doch schon dieVerlobungsszene" (S. 70) gemahnt sehr stark an die der Effi Briest, und die verklärten ersten Jahre der Ehe werden gar durch einen einzigen verräterischen Nebensatz entzaubert (S. 12 f.). Es scheint uns deshalb wenig plausibel, den Konflikt darin zu sehen, die Grä­fin leide an ihrer einst großen, nun aber biologisch-psychologisch nicht mehr .realisierbaren" Liebe zum Gatten. Das, worunter sie im Hinblick auf ihn leidet, ist lediglich das schlechte Gewissen.

W. Seibt hat unlängst den vom Autor veranstaltetenLemurentanz von Zerr- und Gegenbildern der Ehe" 26 als für Unwiederbringlich strukturgebend nach­gewiesen. Wir möchten - im Gegensatz zu ihm - die erste Ehe der Holks zum wichtigsten dieser Zerrbilder erklären: Sowohl auf Seeland - unter der Herr­schaft des hetärischen Prinzips - als auch auf Schleswig unter nur scheinba­rer Herrschaft des demetrischen Prinzips - schreitet der Zerfall der patriar­chalischen Sozialisationsform schlechthin, der monogamen Paarungsehe, unauf­haltsam voran. Dort offen, hier kryptisch - im buchstäblichen Sinne des Wor­tes. 1861 - im Jahr der Thronbesteigung Wilhelms I. und des Selbstmordes unserer Heldin - schreibt Bachofen, der auch die Opposition Aphrodite/Deme­ter für die Kennzeichnung verschiedener Prinzipien menschlichen Sozialver­haltens einführte, in der Vorrede zum .Mutterrecht" einige Überlegungen nie­der, die ins Arbeitsbuch eines jeden Fontaneinterpreten gehören: »Es tritt unserer heutigen Denkweise fremdartig entgegen, Zustände und Ereignisse, welche wir dem stillen und verborgenen Kreise des Familienlebens zuweisen, einen so weitgehenden Einfluß auf das ganze Staatsleben, seine Blüte und seinen Verfall ausüben zu sehen ... Und doch ist es gerade der Zusammenhang

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