Heft 
(1991) 52
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des Geschlechterverhältnisses und des Grades seiner tiefem oder höhern Auf­fassung mit dem ganzen Leben und den Geschicken der Völker, wodurch die folgende Untersuchung zu den höchsten Fragen der Geschichte in unmittel­bare Beziehung tritt.'-' Fontane hat bekanntlich eine ähnliche Überzeugung hinsichtlich der Beziehung von Liebesgeschichten" und dem versteckt und ge- fährlich Politischen" darin auf den Gesellschaftszustand " vertreten. 28 Es bedeu­tet allerdings eine Verzeichnung seiner abwägenden Sicht des Problems, wenn in einer Art Pauschalverurteilung dieViktorianische Ehe- und Sexual- moral' für Christines Leiden und Tod verantwortlich gemacht wird, wie es H. Eilert unternimmt. 29 Ihre Crux besteht u. E. darin, daß sie Unwiederbring­lich offenkundig mit den Augen einesIbsianers' liest 30 , während Fontane des­sen Favorisierung der - "freien Herzensbestimmung " gegenüber denOrdnungs mächten" zumindest sehr skeptisch gegenübersteht. 31 So kann das Buch eher als intertextueller Versuch verstanden werden, IbsensEvangelium ad absur­dum zu führen; an der Textoberfläche träfe es dann wieder einmal den armen Holk, der die wetterwendische Schwäche" des menschlichen Herzen voll aus­zukosten hat. Wir sind jedoch nach allem Vorhergesagten der Meinung, daß der Ibsen-Untertext vonUnwiederbringlich' dieFrau vom Meer' ist, die Fontane ungemein interessiert und gewissermaßen produktiv provoziert hatte 32 , wurde doch im Stück von 1888 sein ureigenstes Thema, das der Melusine be­handelt. Wir nähern uns erneut der Frage nach den Gründen der massiven Triebunterdrückung, der sich Christine aussetzt. Die Ibsensche Lösung des Dreieckskonflikts, die berühmtefreie Entscheidung" der Ellida für den Gatten und gegen die herzensbestimmte Faszination durch denMeermann", stürzt die Gräfin nur noch sicherer in den Abgrund; das zweiteJa" zu Holk ist ein Ja' zum Tode. Ellidas Worte über das Meer:Ein Etwas ist dahinter, das zieht und lockt 33 ...' könnte Christine gesprochen haben - vorausgesetzt, Fontane hätte sich dergleichen Direktheiten gestattet. Auch Christine istdem Meer verwandt", von ihm angezogen (und flieht es deshalb zunächst). Ihre abwehrende Haltung zu Holks Uhlanddeklamation, mit der sie der Graf für seine Neubauabsichten einnehmen möchte (S. 9), ist ein schwacher Ver­such, die Verlockung abzuweisen, die in einer der nichtzitierten - ihr aber wohlbekannten - Strophen desSchloß am Meer" mitschwingt:Es möchte sich niederneigen / In der Abendwolken Glut." - Der Abendwolken Glut über dem nur wenig bewegten" Meer beleuchtet schließlich die Szene von Christi­nes Freitod (S. 263), ihremsuicide de nostalgie", wie P. Bange treffend be­merkt 34 , denn es ist eine Heimkehr der Melusine, die ihr Bemühen, sichins Schön-Menschliche" einzureihen 35 , als vergeblich besiegelt. Heimweh und Heim­kehr soll aber u. E. noch anderes gleichwohl dazugehöriges bedeuten. Da gibt es Ellidas seltsamen Vergleich:Der Mann ist wie das Meer"; und es existiert ein erotisches Moment im Selbstmord, das von diversen Interpreten bemerkt und als irritierend empfunden wurde:Überraschend ist allerdings, daß dem Element der Verlockung und Verführung, dem allein Holk mit sei­ner leichtlebigen Art ausgesetzt schien, sogar Christine, die das Gebot der Pflicht für das Höchste hält, ihren Tribut entrichtet hat." 36 Als wäre nicht

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