Chri stines Gefährdung der geheime Drehpunkt des Textes ... In nahezu allen Arbeiten, die das erotische Moment im Freitod der nazarenischen Gräfin immerhin vermerken - es sind nicht allzuviele-, wird dennoch die ostentative Christlichkeit derselben für bare Münze genommen und folgerichtig ein „Widerspruch" konstatiert. Der Suizid bedeute „eine Hingabe an die Elemente bei gleichzeitiger Preisgabe des Christentums", so K. Müller. 37 „Gebot der Pflicht" und „ Katechismus Lutheri" , deren Geltung Christine für Preußen und Schleswig-Holstein so emphatisch reklamiert, sind sie ihr verinnerlichte Lebensnormen? Oder gleichen nicht in jenem ironischen und luziferischen Licht des Autors ihre Frömmigkeit, ihre - Askese einschließende - Nachfolge der „Heiligen Elisabeth“ (S. 249), ihre Gruftbaupassion und Totenverehrung einem abwehrenden Kreuzschlagen gegen die „Gespenster" des Ortes - und ihres Innern?
Der Autor vertreibt den Leser viel zu schnell aus dem Holkenäser Paradies, als daß das Persönlichkeitsprofil der Gräfin Holk je angemessen Umrissen worden wäre. Versuchen wir einmal, dieses Profil mit Hilfe der um 1890 radikalsten psychologisch-kulturkritischen Deutungsmuster nachzuzeichnen. Ganze Passagen aus den damals erschienenen Werken Nietzsches etwa können als Kommentare zu Unwiederbringlich gelesen werden. Ähnliches läßt sich von einigen später erschienenen Texten Freuds sagen. Hier ist fernab aller schulmäßigen B eeinflussung die Koinzidenz eines auf der gleichen Tradition basierenden Denkens am Werke, an dessen Aufklärungs- und Umwertungs- Arbeit Fontane auf boshaft-stille Weise an vorderster Front beteiligt war.
Die Sinnlichkeit der „schönen Seele". Ein Versuch über die Genealogie der Moral der Christine Holk
Die Periode einer neuen Aufklärung, die selbst noch die verborgensten Motive menschlichen Handelns ans Tageslicht zu holen suchte, brachte u. a. auch die Entdeckung der „nervösen Frau". „Es hat Jahrhunderte ohne Ellidas gegeben, jetzt kommen die Jahrhunderte mit...", konstatiert Fontane anhand Ibsens diesen besonders in der Belletristik ausgebreiteten Sachverhalt. Von einer nur pejorativ verstandenen „Pathologisierung" der „nervösen Frauen, die zu Hunderten und Tausenden unter uns leben", will Fontane jedoch nichts wissen und hält sich damit - ähnlich Nietzsche - den Rückweg für eine nochmalige Umwertung seiner „internal angeflogenen" Frauengestalten frei, die ihnen nicht nur ihren ästhetischen Glanz, sondern auch ihre Daseinsberechtigung verleiht: „Was heißt krank, wer ist gesund ? Und wenn krank, nun so bin ich eventuell fürs Kranke." 38
Diesen letzten - wichtigen - Aspekt einmal ausgeklammert, bildet der folgende Passus aus Nietzsches „Genealogie der Moral" ziemlich präzise das Eheleben des gräflichen Paares ab; wenn auch aus der Sicht Holks. „Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinement zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. .. Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die
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