Gesunden - ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Minenspiel, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten ,die edle Entrüstung' spielt." 39 Bis in die Einzelheiten entspricht dieses Interaktionsverhalten, — welches Nietzsche auch den sogenannten „schönen Seelen" unterstellt -, dem der von Bruder Arne als „ schöne Seele ' (S. 35) charakterisierten Christine. Sie steht im Verdacht, daß „hautaine Manier", „doktrinärer Ton " und „ Rechthaberei' ', die sie kennzeichnen, einem „versteckten Hochmut“ geschuldet seien, der sich lediglich in „ Demutsallüren ' kleide (S. 35, 146, 145, 38). Arne erklärt Christines Religiosität bündig mit dem Willen zur Macht: es sei ihr „Herrschergelüste , das sich hinter ihrer Kirchlichkeit verbirgt und zugleich immer neue Kraft daraus saugt ' (S. 186). U. E. erfaßt diese Erklärung nur eine Begleiterscheinung von Christines „religiöser" Neurose, den „Willen der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen"; - der Gräfin Streben nach dem „asketischen Ideal" sollte nicht als Kampf um die Macht schlechthin begriffen werden: es ist ein schwerer Kampf ums Überleben mittels der Religiosität! „Das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der E rhaltung des Lebens, das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen den Tod .. ." 40 Bleibt die Frage nach der Ätiologie von Christines „Krankheit zum Tode", die wir bereits als Resultat der vergeblichen Abwehrarbeit gegen ihre Leidenschaften und als Triumph derselben begriffen haben.
H. Eilert hat 1982 - wohl als erste - die Vermutung ausgesprochen, Christine Holk leide „unter der Last unbefriedigter und uneingestandener Triebwünsche". Eilert verstellt diesen produktiven Zugang allerdings gleich wieder, indem sie sich - wie schon angedeutet - mit der alles und nichts erklärenden Leerformel von der „Verkümmerung und Deformation legitimer Emotionen und Strebungen durch eine abstruse Ehe- und Sexualmoral' 41 begnügt. Hier wäre nachzufragen gewesen. Inwiefern verkümmert und deformiert eine Moral Emotionen und Strebungen, wenn diese doch - wie Eilert annimmt - dem in besagter Moral einzig legitimen Objekt, dem Ehemann gelten? Wie aber, wenn ihre „Strebungen" alles andere als legitim im Sinne der historisch gewordenen Normen wären, die ja doch immer die konventionelle Ausgangs läge des realistischen Romans bilden? Dann hätte „kulturelle Triebunterdrückung" ihre repressive Kraft zu Recht entfaltet und zugleich sich nur an der Oberfläche als wirksam erwiesen - mit allen krankmachenden Konsequenzen. Christine lebt nach außen hin „wie alle leben“, sie übertreibt die geltenden Normen sogar noch, sie geißelt sich gewissermaßen, denn innen - liegt Babel, liegt ihr „inneres Düppel", vor dem sie verblutet.
R- Speirs machte in seiner anregenden - leider zu skizzenhaft angelegten - Arbeit von 1986r 4 2 nicht nur auf die Analogie von Nietzsches Ausführungen zu Askese zum Verhalten der Gräfin Holk aufmerksam, er teilt uns auch eine wertvolle Beobachtung mit, die den Zusammenhang von hypertrophierter Ethik und „illegitimen" Begehren, - den Speirs freilich nicht sieht -, in einer Figur der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts aufruft. Christine sei „in ihrem Glauben an den Segen der .Zuchtrute' wesensverwandt mit Gustav von Aschen-
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