Heft 
(1991) 52
Seite
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Freud wenig später - auch mit dem Material der Dichter - wissenschaftlich ausbaute und kartographierte.

Ohne hier schon auf die Reichweite des Inzestmotivs bei Fontane eingehen zu können, sei nur darauf hingewiesen, daß dieses Motiv in diversen Untersuchun­gen 54 selbst dort vermutet wird, wo an der Textoberfläche nur diffuse Signale auf einschlägige andere Werke - meist der Weltliteratur - deuten. Fontane treibt seine intertextuellen Spiele auf dem ganzen Spektrum der Möglichkeiten; von der expliziten Allusion bis zur kryptischen Kontrafaktur ist bei ihm alles anzutreffen. Diese Letzteren in ihrer sinnstiftenden Funktion aufzuklären, be­darf es allerdings eines hermeneutischen Gesamtkonzepts: mit denTeilen gelegentlicher Beobachtungenin der Hand" ist die Interpretation noch lange nicht getan. Ein Beispiel für die Unentschiedenheit bei der Wahrnehmung subtextueller Spurenelemente ist Petersens interessante Arbeit über die archi­tekturgeschichtlichen Hintergründe von Holks "Tempel". Er kommt - vom Re­naissance-Baumeister Palladio ausgehend - auf den Bauherren im Wilhelm Mei­ster und die Geschwisterliebe seiner Kinder Augustin und Sperata zu sprechen, verfolgt aber diesen Ansatz für Unwiederbringlich nicht weiter. Dabei hätte sich die assoziative Beschwörung der Eltern des Hermaphroditen Mignon für den Roman als tragfähigeHilfskonstruktion" erwiesen. Leben und Tod der Christine Holk ist gewissermaßen dem Leben der Sperata nachgestellt - mit dem signifikanten Unterschied, daß ihr Inzest ein bewußter gewesen war. Ihr Traum von einem Trauerzug, der sich in einen Hochzeitszug verwandelt und dann wieder in einen Trauerzug (S. 67), hat eine auf das Ende vorausdeutende Aufgabe zu erfüllen, er identifiziert dabei die Ehe der Holks als todbringend. Betrachtet man jetzt die Gestaltung des Hochzeitszuges von Holkenäs im Lichte unserer Annahme, so fällt sofort die teilweise wörtliche Übereinstimmung mit der Gestaltung des Trauerzuges der Sperata ins Auge: eine unheilige Heilige wird beerdigt.

Hochzeitszug der Holks (S. 253) = Trauerzug (9. Kap., S. 67)!

.. als der Zug ... den zwischen den Tannen des Parks hinlaufenden Kies­weg passiert hatte, trat man in ein Spalier ein, das die Holkebyer Bauerntöchter samt den Mädchen aus den Nachbardörfern gebildet hatten. Alle hielten Körbe in Händen und streuten Blumen über den Weg, einige aber, die dem An­sturm ihrer G e f ü h l e nicht wehren konnten, warfen dr äng ten sich an Christine heran, um ihr die Hand oder auch nur den Saum

Trauerzug der SperataWilhelm Meister", 9. Kap.

Der Ruf ihrer Visionen hatte sich bald unter das Volk verbreitet und das ehrwürdige Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, verwandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Ge­danken, daß man sie sogleich für heilig halten müsse. Als man sie zu Grabe be­statten wollte, drängten sich viele Menschen mit unglaublicher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenig­st e n s i h r K l e i d berüh53 re n ."

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