Freud wenig später - auch mit dem Material der Dichter - wissenschaftlich ausbaute und kartographierte.
Ohne hier schon auf die Reichweite des Inzestmotivs bei Fontane eingehen zu können, sei nur darauf hingewiesen, daß dieses Motiv in diversen Untersuchungen 54 selbst dort vermutet wird, wo an der Textoberfläche nur diffuse Signale auf einschlägige andere Werke - meist der Weltliteratur - deuten. Fontane treibt seine intertextuellen Spiele auf dem ganzen Spektrum der Möglichkeiten; von der expliziten Allusion bis zur kryptischen Kontrafaktur ist bei ihm alles anzutreffen. Diese Letzteren in ihrer sinnstiftenden Funktion aufzuklären, bedarf es allerdings eines hermeneutischen Gesamtkonzepts: mit den „Teilen“ gelegentlicher Beobachtungen „in der Hand" ist die Interpretation noch lange nicht getan. Ein Beispiel für die Unentschiedenheit bei der Wahrnehmung subtextueller Spurenelemente ist Petersens interessante Arbeit über die architekturgeschichtlichen Hintergründe von Holks "Tempel". Er kommt - vom Renaissance-Baumeister Palladio ausgehend - auf den Bauherren im Wilhelm Meister und die Geschwisterliebe seiner Kinder Augustin und Sperata zu sprechen, verfolgt aber diesen Ansatz für Unwiederbringlich nicht weiter. Dabei hätte sich die assoziative Beschwörung der Eltern des Hermaphroditen Mignon für den Roman als tragfähige „Hilfskonstruktion" erwiesen. Leben und Tod der Christine Holk ist gewissermaßen dem Leben der Sperata nachgestellt - mit dem signifikanten Unterschied, daß ihr Inzest ein bewußter gewesen war. Ihr Traum von einem Trauerzug, der sich in einen Hochzeitszug verwandelt und dann wieder in einen Trauerzug (S. 67), hat eine auf das Ende vorausdeutende Aufgabe zu erfüllen, er identifiziert dabei die Ehe der Holks als todbringend. Betrachtet man jetzt die Gestaltung des Hochzeitszuges von Holkenäs im Lichte unserer Annahme, so fällt sofort die teilweise wörtliche Übereinstimmung mit der Gestaltung des Trauerzuges der Sperata ins Auge: eine unheilige Heilige wird beerdigt.
Hochzeitszug der Holks (S. 253) = Trauerzug (9. Kap., S. 67)!
„•.. als der Zug ... den zwischen den Tannen des Parks hinlaufenden Kiesweg passiert hatte, trat man in ein Spalier ein, das die Holkebyer Bauerntöchter samt den Mädchen aus den Nachbardörfern gebildet hatten. Alle hielten Körbe in Händen und streuten Blumen über den Weg, einige aber, die dem Ansturm ihrer G e f ü h l e nicht wehren konnten, warfen dr äng ten sich an Christine heran, um ihr die Hand oder auch nur den Saum
Trauerzug der Sperata „Wilhelm Meister", 9. Kap.
„Der Ruf ihrer Visionen hatte sich bald unter das Volk verbreitet und das ehrwürdige Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, verwandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Gedanken, daß man sie sogleich für heilig halten müsse. Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele Menschen mit unglaublicher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigst e n s i h r K l e i d berüh53 re n ."
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