des Kleides zu küssen. ,Sie machen eine Heilige aus m i r, sagte die Gräfin und suchte zu lächeln.“
Christine schuf „ dies alles mehr Pein als Freude“ (S. 253), und sie knüpfte, „wie das in ihrer Natur lag, ängstlich schmerzliche Betrachtungen oder vielleicht selbst trübe Zukunftsgedanken an dies Übermaß v on Huldigung.“ Das sich derart offenbarende Schuldgefühl der Gräfin Holk, das sie ihrem „ melancholischen Zug“ zuschreibt (S. 50) und das letzten Endes in einem ausgeprägten Bedürfnis nach Bestrafung mündet, hat aber - nach dem Erklärungsmodell der Freudschen Psychoanalyse - zunächst seine Ursache darin, daß ihr Ich „Mit Angstgefühlen (Gewissensangst) auf die Wahrnehmung (reagiert), daß es hinter den von seinem Ideal, dem Über-Ich, gestellten Anforderungen zurückgeblieben ist" 56 , daß sie also die ihr vom Bruder in Abwehr ihrer Libido aufgezwungenen Normen („Du hast mir diese Richtung gegeben“), nicht zu leben vermag. Wegen i h m nicht zu leben vermag. Eine „richtige* Ehe mit Holk ist ihr unmöglich, da dessen Ehe-Herren-Imago viel zu schwach ist, die ödipale Bindung an den Bruder durch Ablösung zu überwinden. Die schon erwähnte „Werbeszene" macht die Hierarchie der Bindungen sinnfällig: „ Und wenn ich dann daran denke, wie mein Bruder, ach, lang ist's her, mich von dort abholte und Holk mit ihm ...' (S. 70 f.) Nun repräsentiert das Über-Ich, indem es die „ersten Objekte der libidinösen Regungen", die Eltern, ins Ich einverleibt, ohnehin auch Es-Strebungen. Bei Christine aber ist die D e - Sexualisierung dieser Beziehung, die allein den Untergang des Ödipuskomplexes und damit eine „normale" Sozialisation gewährleistet, mißlungen; fixiert auf eine infantile Stufe inzestuöser Libido, unfähig, einen anderen Mann als den Bruder zu lieben, kann sie weder den Außenweltansprüchen („Ehe"), noch darf sie den verbotenen (weil bei ihr sexuellen) Es-Lockun- gen des Über-Ich gerecht werden. Die wertsetzende und strafende Gesellschafti und das mit mehr als „abgedämpfter Libido" besetzte Objekt verkörpern sich für sie in einer Person auf unversöhnliche Weise: Was „sie", die Vaterinstanz, auf der einen Seite verbietet, dazu fordert „er", der Mann, auf der anderen heraus... Ihr totales Versagen vor dem Über-Ich ist damit vorprogrammiert: In Christines selbstmörderischem Verhältnis zu „Alfred, dem Regenten" gelang es Fontane, das Phänomen des „moralischen Masochismus" in psychographischer Präzision Gestalt werden zu lassen.
Die Leiden schaffende Liebe Christines wandelt sich vorübergehend in die Liebe zum Leiden: In der paradoxen Logik ihres Masochismus ist der Umstand begründet, daß Holks Fehltritt, die Scheidung und sein Weggang ihr die Chance eines „Ersatz leidens" gaben, das den Urkonflikt eine Weile schützend zu verdecken im Stande war; - es bot ihr sogar die Legitimation für die regredierende Flucht nach Gnadenfrei, in ihre „Mädchenwelt", - und das seiner geringeren Intensität wegen gleichsam lebenserhaltend wirkte. Die Scheidung wäre die Rettung für Christine gewesen, ihr übergroßes Leidens- und Strafbedürfnis jedoch, der den Masochismus kennzeichnenden „Le-
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