Estrids Geburt also ein subversiver Einbruch des Urzustands in die ausdifferenzierte polare Geschlechterwelt der patriarchalischen Gesellschaft? Eine Erinnerung an das Paradies, eine Regression und eine Utopie? Immerhin spricht der alte Fontane aus dem Munde des alten Haldern in einem Atemzug von .Adam, Neubeginn der Menschheit, Paradies und Rousseau ' und von Adam- und-Eva-Zeiten als revolutionären .Regulierungszeiten in nicht allzu ferner Zukunft'. 63 In Unwiederbringlich liegt so etwas wie revolutionäre Hoffnung auf den Kindern, in Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die Mutter, der sie z. T. alles andere als fremd sind, durch die »Zuchtrute" christlicher Erziehung zu neutralisieren gedenkt: in Astas „Ellida-Sehnsucht" nach dem bürgerlichen „Meermann", in Axels atavistischer Holkscher Jagdleidenschaft und seiner Freundschaft mit dem offenkundigen Haeckelianer Strehlke.. . Vor allem aber ist es die kaum greifbare Atmosphäre von Fall und Verheißung einer „alles Getrennte wieder vereinigenden" Rückkehr zum Uranfang im Namen „Estrid Adam", dieses Mignons von Holkenäs 6 4 , die auf faszinierende Weise die Ambivalenz des Dekadenzmotivs sinnfällig macht. Fontane stimmt hier in seiner unnachahmlich leisen Art in den auf Darwin gestützten 65 zeitgenössischen Diskurs über „das Männliche" und „das Weibliche" ein, der - gemäß seiner naturphilosophisch-romantischen Tradition — wenigstens einen „psychischen Hermaphroditismus" als Lösung des Geschlechterproblems nicht für unmöglich erklärte. 66 Manche Propagandisten des neuen Menschen gingen - wie Rosa Mayreder - noch weiter: „Der Repräsentant eines höheren Menschentums... wird jener sein, mit dessen psychophysischer Konstitution die Möglichkeit gegeben ist, die Schranken des Geschlechts zu überschreiten. . ." 67 Wie anders als in einem kryptischen Andeutungsstil kann der realistische Erzähler derartiges ins Bild setzen? Selbst die klassisch gedämpfte Deutlichkeit eines Goethe 68 schien Fontane am Ausgang des 19. Jahrhunderts bei der Gestaltung nicht normgerechten Sexualhabits nicht mehr zeitgemäß. So ist denn das kaum lebensfähige Kind „Estrid Adam" - im konventionellen Sinne eine „mißglückte Bildung" 69 , symbolisch als verfrühte Vorform des „synthetischen Menschen", ja als „zweiter Adam" 70 deutbar - nur noch als „Erinnerung" in der Erzählung präsent, die das Geheimnis von Holkenäs mit in die Gruft genommen hat. Christine selbst führt auf jene Spur, die uns die Zeugung Adams nicht bloß als metaphorische (Inzest)-Sünde begreifen läßt. Die Gräfin definiert Holks Ansinnen, das Kind „Adam" zu nennen, „weil er gehört hatte, daß Kinder, die so heißen, nicht sterben" (S. 55), korrekt als „Heidentum und Aberglauben". Obgleich sie schon auf die Ebene des Volksaberglaubens herabsteigt, bringt sie jedoch - verständlicherweise - etwas Wichtigeres aus diesem Bedeutungsreservoir nicht zur Sprache. Warum will der Graf seinen Vornamen dem Kind nicht geben und wählt dafür Adam aus? Vielleicht, weil der Volksbrauch letzteren „vielfach wie Eva unehelichen Kindern beilegte". 71
Eine Meile nördlich von Glücksburg, - das Sommerresidenz des Matrosenkönigs Friedrich VII. und „Hausname" des folgenden Herrschers war, liegt das Dorf Hollnis (dän. Holnaes) - nicht nur unserer Meinung nach
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