Heft 
(1991) 52
Seite
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Estrids Geburt also ein subversiver Einbruch des Urzustands in die ausdiffe­renzierte polare Geschlechterwelt der patriarchalischen Gesellschaft? Eine Er­innerung an das Paradies, eine Regression und eine Utopie? Immerhin spricht der alte Fontane aus dem Munde des alten Haldern in einem Atemzug von .Adam, Neubeginn der Menschheit, Paradies und Rousseau ' und von Adam- und-Eva-Zeiten als revolutionären .Regulierungszeiten in nicht allzu ferner Zu­kunft'. 63 In Unwiederbringlich liegt so etwas wie revolutionäre Hoffnung auf den Kindern, in Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die Mutter, der sie z. T. alles andere als fremd sind, durch die »Zuchtrute" christlicher Erziehung zu neutralisieren gedenkt: in AstasEllida-Sehnsucht" nach dem bürgerlichen Meermann", in Axels atavistischer Holkscher Jagdleidenschaft und seiner Freundschaft mit dem offenkundigen Haeckelianer Strehlke.. . Vor allem aber ist es die kaum greifbare Atmosphäre von Fall und Verheißung eineralles Getrennte wieder vereinigenden" Rückkehr zum Uranfang im NamenEstrid Adam", dieses Mignons von Holkenäs 6 4 , die auf faszinierende Weise die Ambi­valenz des Dekadenzmotivs sinnfällig macht. Fontane stimmt hier in seiner un­nachahmlich leisen Art in den auf Darwin gestützten 65 zeitgenössischen Dis­kurs überdas Männliche" unddas Weibliche" ein, der - gemäß seiner naturphilosophisch-romantischen Tradition wenigstens einenpsychischen Hermaphroditismus" als Lösung des Geschlechterproblems nicht für unmöglich erklärte. 66 Manche Propagandisten des neuen Menschen gingen - wie Rosa Mayreder - noch weiter:Der Repräsentant eines höheren Menschentums... wird jener sein, mit dessen psychophysischer Konstitution die Möglichkeit ge­geben ist, die Schranken des Geschlechts zu überschreiten. . ." 67 Wie anders als in einem kryptischen Andeutungsstil kann der realistische Erzähler der­artiges ins Bild setzen? Selbst die klassisch gedämpfte Deutlichkeit eines Goe­the 68 schien Fontane am Ausgang des 19. Jahrhunderts bei der Gestaltung nicht normgerechten Sexualhabits nicht mehr zeitgemäß. So ist denn das kaum lebensfähige KindEstrid Adam" - im konventionellen Sinne einemiß­glückte Bildung" 69 , symbolisch als verfrühte Vorform dessynthetischen Men­schen", ja alszweiter Adam" 70 deutbar - nur noch alsErinnerung" in der Erzählung präsent, die das Geheimnis von Holkenäs mit in die Gruft genom­men hat. Christine selbst führt auf jene Spur, die uns die Zeugung Adams nicht bloß als metaphorische (Inzest)-Sünde begreifen läßt. Die Gräfin defi­niert Holks Ansinnen, das KindAdam" zu nennen,weil er gehört hatte, daß Kinder, die so heißen, nicht sterben" (S. 55), korrekt alsHeidentum und Aberglauben". Obgleich sie schon auf die Ebene des Volksaberglaubens her­absteigt, bringt sie jedoch - verständlicherweise - etwas Wichtigeres aus die­sem Bedeutungsreservoir nicht zur Sprache. Warum will der Graf seinen Vornamen dem Kind nicht geben und wählt dafür Adam aus? Vielleicht, weil der Volksbrauch letzterenvielfach wie Eva unehelichen Kindern bei­legte". 71

Eine Meile nördlich von Glücksburg, - das Sommerresidenz des Ma­trosenkönigs Friedrich VII. undHausname" des folgenden Herrschers war, liegt das Dorf Hollnis (dän. Holnaes) - nicht nur unserer Meinung nach

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