Gabor Kerekes, Szombathely Gragger, Fontane und die Fakten
1912 erschien Robert Graggers Artikel «Ungarische Einflüsse auf Theodor Fontane' in der .Ungarischen Rundschau", auf den bis auf den heutigen Tag immer wieder in den verschiedenen Ausgaben Fontanescher Werke sowie in der Sekundärliteratur hingewiesen wird. 1
Da dieser Artikel manchen Gedankengang und verschiedene Feststellungen beeinflußt hat - zumindest was den Aspekt .Fontane und Ungarn" anbelangt zugleich aber nur sehr schwer zugänglich ist, wollen wir ihn an dieser Stelle im vollen Wortlaut wiedergeben, allerdings mit einigen Kommentaren versehen, da uns dies zwingend notwendig erscheint.
Robert Gragger hat im Laufe seines kurzen Lebens (1887-1926) viel für die deutsch-ungarische kulturelle Annäherung getan, sein Name hat bei den Literaturwissenschaftlern auch heute noch einen guten Klang. Der Graggersche Artikel über Fontane gehört aber nicht zu seinen „Glanzleistungen", eher im Gegenteil. Das bestehende Ansehen Graggers darf jedoch kein Hinderungsgrund sein, auf ungewollte oder von ihm (selbst) gewollte Ungenauigkeiten in seinen Schriften hinweisen zu dürfen. 2
Wir wollen im Interesse der Überschaubarkeit Graggers Artikel in vollständigen Absätzen zitieren und unseren Kommentar dem jeweiligen Absatz folgen lassen. (Die Fußnoten Graggers zitieren wir in eckigen Klammern und merken sie besonders an.)
Sehr selbstbewußt beginnt der Artikel*:
»Ungarns Wirkung auf die deutsche Literatur zerfällt zeitlich und stofflich in drei Gruppen. Anfangs erscheint Ungarn mit seiner Geschichte und deren Trägern, seinen tapferen Soldaten und Helden, in historischen Volksliedern, Dramen, Erzählungen und Romanen. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wirkt das Ungarland auch durch seine Landschaften und Bewohner mit ihren ethnographischen Eigentümlichkeiten und durch sein Gesellschaftsleben auf deutsche Dichter. Schließlich beeinflußt selbst die ungarische Literatur die deutsche. Ein Beitrag zur Geschichte des letztgenannten Einflusses ist der folgende."
Schon allein diese Sätze fordern Widerspruch heraus, denn es existieren nur sehr wenige Werke in der deutschen Literatur mit ungarischer Thematik. Nur Hans Sachs' »Wider den blutdürstigen türken", Novalis' „Heinrich von Ofterdingen", Körners „Zriny", Brentanos „Die mehreren Wehmüller und die ungarischen Nationalgesichter', Grillparzers „Ein treuer Diener seines Herrn", Heines „Im Oktober 1849", einige Gedichte Lenaus, Stifters „Brigitta" sowie die Rahmenhandlung von Fontanes früher Erzählung „Tuch und Locke" - die Gragger nicht gekannt hat - sind die wenigen Werke,
Wiedergabe nach Originaltext in der Ungarischen Rundschau v. 1912, S. 220 — 224
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