Heft 
(1991) 52
Seite
98
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dicht aufweist. Das Fragwürdige an seiner Argumentation mag Gragger ge­fühlt haben, deshalb führt er auch zur Verteidigung seiner These aus:

»Aranys nationale Allegorie ist eingehender, sie dringt episch ins De­tail, dessen unnachahmlicher Meister Arany ist. Fontane endet mit bün­diger Kürze, mit einer für ihn charakteristischen Zurückhaltung. Sein Gedicht ist eine Anklage gegen die Gesellschaft. Der Kranich ist bei ihm der geniale Mensch, der sich in eine schönere, größere, seiner wür­digere Welt hinaussehnt. Die guten Philister, die ihn mit Bewunderung betrachten, verstehen sein Sehnen, seine Unruhe, sein Selbstquälen nicht, und als sie sehen, daß er seine verlorenen Bemühungen auf­gibt, umgackern sie ihn und freuen sich - nicht ohne Schadenfreude -, daß ihr hoher Genosse schließlich doch unter ihnen bleibt. In techni­scher Hinsicht ist zu beachten, daß Fontane auch die Art der Steige­rung des Effektes ebenso wie Arany anwendet: in beiden Gedichten beschreibt die drittletzte Strophe den lockenden Zug der Vögel über dem Kopfe des Gefangenen, die vorletzte Strophe seine hoffnungsvol­len Anstrengungen, sich emporzuschwingen und seine Resignation.'

Soll aber Fontanes Gedicht auf das des Ungarn zurückgehen, so muß sich auch eine Erklärung dafür finden lassen, warum es derart anders geworden ist. Wir erhalten diese Erklärung auch:

»Der objektivere Fontane, dessen französisches Blut ebenso wie das Chamissos keine Gefühlsergießungen gestattet und eben deshalb durch die fast kalte, teilnahmslose Beschreibung äußerer Zeichen der Schmer­zen oft um so stärker wirkt, ist eine ganz anders veranlagte Natur, als der zart besaitete Arany, der lebhaft, mit warmer Teilnahme das wach­sende Sehnen des Vogels verfolgt und den für ihn so schmerzhaften Zug seiner Storchgenossen. Aranys Gedicht ist pathetisch, der ironische Schluß bei Fontane deutet auf Heines Einfluß.'

Daß diese Argumentation nur sehr wenig befriedigend ist, braucht nicht aus­drücklich betont zu werden. Außerdem sei darauf hingewiesen, daß Fontane seinen »Kranich' bereits am 27. Oktober 1844 im »Tunnel" vorgelesen hatte, also drei Jahre bevor der angebliche Vermittler Kertbeny Berlin überhaupt betrat! 16

Gragger setzt folgendermaßen fort:

Zwei große Dichter trafen sich. Der größte deutsche Balladendichter traf auf den größten ungarischen Balladendichter. Die Art der ver­schiedenen Ausarbeitung charakterisiert treffend beide starken Dichter- Persönlichkeiten. Und es ist eine beachtenswerte Tatsache, daß es neben Arany keinen Dichter in der Weltliteratur gibt, der den Stil der schot­tischen Volksballade so kongenial aufgenommen und die Kunst des Verschweigens so wirksam ausgebildet hätte wie Fontane. Wir dürfen wohl annehmen, daß er hierin manches vom ungarischen Meister der 98