Heft 
(1991) 52
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nach bis dorthin, nach London, nach Amerika, Japan und Australien, überall, wo Fontanefreunde am Werk waren. Schwieriger oft, aber in diskreter Weise erfolgreich, war andererseits die Vermittlung zwischen Fontaneforschern in beiden Teilen Deutschlands, zumal zwischen beiden Teilen Berlins. Und die Fon­tanegesellschaft widerspiegelt, wie ein flüchtiger Blick auf die Zusammensetzung ihres Vorstands und ihrer Mitgliederliste, beweist, die Verbindungen, die da­mals geknüpft und seitdem aufrechterhalten wurden. Und das sind Verbindun­gen zwischen Menschen, die, wie Fontanes Werk uns lehrt, zu einem Gutteil durch ihre gesellschaftlichen und historischen Umstände geformt sind, die oft recht unterschiedlich waren. Und Vermittlung, das hat uns die gemeinsame Beschäftigung mit Fontane nahegelegt, zielte weder damals noch heute auf Aufhebung von Differenzen, sondern auf Verständnis des anderen durch Ge­legenheit zum Umgang miteinander. Auch in diesem Sinn ist unsere Gesell­schaft ein Politikum.

Noch ein weiteres Wort aus Alexander Kluges Rede möchte ich zitieren als Oberleitung zu meinem eigentlichen Thema:

»Es geht nicht darum, immer neue Anfänge zu setzen und diese dann abzu­brechen ... Vielmehr geht es darum, ein gelassenes Verhältnis zur Geschichte seines Landes zu haben, d. h. Geschichte zuzulassen. ... Es geht darum, daß wir anfangen, an unserer Geschichte zu arbeiten. Etwas sehr Konkretes stelle ich mir darunter vor, es kann auch damit anfangen, daß man sich darüber wechsel­seitig Geschichten erzählt.'

Allerdings wäre in meinem Fall eine weitere Bescheidenheitsfloskel ange­bracht. Denn ich beabsichtige in den nächsten 40 Minuten nicht mehr als einen kleinen Auszug aus der deutschen Geschichte anhand des Stechlinromans zu geben, ganz im Sinn von Uwe Johnsons Buch: »Der langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit'. In diesem Werk, dessen Titel gleichermaßen unsere Arbeit als Germanisten wie auch unseren Weg durch das Leben kennzeichnet, machte Uwe Johnson eine Bemerkung, die eine besondere Leistung des fontane- schen Spätwerks im allgemeinen und des Stechlinromans im besonderen be­gründet und, wie ich hoffe, meinen Zugriff zum Werk legitimiert:

,... wenn wir wissen wollen, was unsere Vorgeschichte in den letzten vierzig Jahren des 19. Jahrhunderts ist, dann werden wir eben nicht mehr vordringlich zu Bismarck greifen, oder zu Caprivis oder zu Bethmann- Hollwegs Erinnerungen, wir werden wieder Fontane lesen, und da wer­den wir ein Bild der Gesellschaft bekommen, wo die konkreten Einzel­heiten und das Verhalten der Personen uns viel mehr überzeugen. Und das wird dann allmählich unser 19. Jahrhundert werden.'

Schon das Wort »Unser Jahrhundert' mag befremdlich wirken. Genau so schwie­rig wie es ist, über den eigenen Schatten zu springen, so hat es einer fast halb­hundertjährigen Arbeit unserer Historiker bedurft, darunter viele englisch­sprachige, um den Deutschen einen etwas weniger befangenen Umgang mit je-

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