Heft 
(1991) 52
Seite
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nem 19. Jahrhundert zu erlauben, vor allem mit seinem letzten Teil, der Epoche des wilhelminischen Kaiserreichs. Doch Einfühlsamkeit mit den Menschen von damals in ihrem Sosein in dem Grad herzustellen, daß man Anteil an ihrem Schicksal hat, ohne unbedingt mit ihnen solidarisch zu sein, dazu braucht man bekanntlich nicht die Geschichtswissenschaft, sondern die Dichtkunst. Es ist, wie ich meine, eine der besonderen Leistungen von Fontanes letztem und, wie er ihn selbst nannte, . patriotischem' Roman, dem Stechlin, daß wir die Men­schen von damals tatsächlich erleben. Wie schwierig das ist und welche uneingestandenen Vorurteile man erst überwinden muß, um zu einem angemes­senen Verhältnis zu dieser Vergangenheit zu kommen, wurde mir nach der Lektüre jenes Wortes von Gottfried Benn klar, wo er mit kargem Lob, aber sicherlich dem Stechlinautor abgelauscht, sagt -

.Er ist vaterländisch, ohne dumm zu sein, er ist märkisch und trotzdem

betreibt er das Geschäft der Musen.

Und daß Fontane so vielen ein gewisses und auch sicheres Gefühl der Vertraut­heit mit jenem sonst geradezu verfremdeten wilhelminischen Deutschland ver­leiht, ist sicherlich der Grund, weswegen viele von Ihnen, die von berufswegen weder Forscher, Herausgeber oder Sammler sind, sich hier eingefunden haben, weil sie wissen, daß Sie in dieser, unserer Fontanegesellschaft, einfach am rechten Ort sind.

Der Stechlinroman ist eines der Meisterwerke der deutschen Literatur, dessen hoher Kunstwert in den letzten Jahren immer wieder neu begründet und sich bei jeder erneuten Lektüre als im echten Sinne des Wortes unerschöpflich erweist. Aber auch im Sinn von Uwe Johnson ist er eine immer wieder und immer mehr zum Staunen erregende Fundgrube der anschaulichsten künstlerisch gestalte­ten Informationen über die Welt und die Gesellschaft, in der er entstanden ist. Die Schwierigkeit der Aufgabe eines Historikers, zugleich Querschnitt und Längsschnitt einer Gesellschaft zu dokumentieren, ihr Sosein und ihren Wandel, das hat für uns der Dichter Fontane in seinem letzten Werk auf seine Weise gelöst. Denn eine der vielen künstlerischen Leistungen des Romans liegt darin, daß er nicht nur eine Gesellschaft in ihrer Mehrschichtigkeit und ihren gegen­seitigen Wechselwirkungen bietet und auch die politischen Strukturen, in der jene Menschen lebten, - Kaisertum und preußisches Königtum, Armee und Bürokratie, Reichstag, Parteien- und Wahlsystem, Kirche und Adel, etc., son­dern daß er sie uns im Selbstverständnis der damals Lebenden vertraut macht.

Ein paar Beispiele unter vielen: Denken Sie an das Wort des sich anbiedernden Parvenüs Gundermann, der so gern vom alten ostelbischen Adel für vollgenom­men werden möchte und meint, dessen Sprache zu reden, wenn er in seiner Tischrede nach Dubslavs Wahlniederlage den Reichstag als Quasselbude ' be­zeichnet. Oder an die selbstbewußte Witwe und ehemalige Weißnäherin Schicke- danz, die Jahre nach dem Tod ihres in die Ewigkeit ohne kaiserlichen Orden eingegangenen Mannes dessen Schicksal mit den Worten beklagt, er habe

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