kritisch rezensierten Bestseller des Jahrhunderts, Gustav Freytags .Soll und Haben' (1855). Bei der erneuten Lektüre des Romans für diesen Vortrag erblickte ich, wie ich meine, eine weitere und für Fontanes Zeit aktuellere Dimension. Über die verfängliche Frage von Fontanes Antisemitismus ist seit Erscheinen von Wolfgang Paulsens Aufsatz im .Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft' manches geschrieben worden. Ich möchte jedoch an dieser Stelle auf die Wichtigkeit des Antisemitismus in der deutschen Innen- und speziell Parteipolitik der 90er Jahre hinweisen, in der Meinung, daß Fontane dieses Problem auch als solches gesehen hat. Aus der zeitgenössischen Perspektive ist vor allem, wie viele jüngere Historiker nahelegen, darunter Suchal, Black- bourn und zuletzt Eley und der Kanadier Retallack, die qualitative Veränderung im politischen Verhalten der Deutschen festzuhalten, jene sich ganz plötzlich seit Ende der 80er Jahre breitmachende politische Mobiliserung des Volkes im Zeichen der fortschreitenden Demokratisierung der Massen. Diese Dynamik äußert sich in erhöhter Wahlbeteiligung, in der Intensität, mit der um die Stimmen der Wähler geworben wurde, in der gesteigerten Zahl von Stichwahlen: es ist ja nicht zufällig, daß die Wahlkapitel an einer Nahtstelle des Romans Vorkommen. Denn diese Mobilisierung, die mit modernen Propagandamitteln durchgesetzt — und gerade wie das Beispiel Stöcker zeigt - von den Konservativen in Preußen gierig aufgegriffen wurde, ändert das Verhalten der Menschen, ändert vor allem ihre Einstellung zum Staat. Der Roman enthält viele Hinweise darauf - etwa in der zweimaligen Nennung des Scheiterhaufens, ein verschlüsselter Hinweis auf eine führende Persönlichkeit bei den radikalen Rechten, dem zeitweiligen Herausgeber der .Kreuzzeitung' und Autor des berüchtigten Scheiterhaufenbriefes, Hammerstein, oder auch in der Erwähnung Gundermanns der Wahlintrigen gegen Dubslav.
In der Radikalisierung der deutschen Konservativen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts spielte der politische Antisemitismus eine zentrale Rolle. So hatte etwa in Hessen schon 1887 Otto Böckels Wahlsieg auf einer antisemitischen völkischen Plattform gegen die Nationalliberalen als Bote kommender Dinge und als klassisches Beispiel des neuen politischen Stils gegenüber der alten Honoratiorenpolitik fungiert. In Süddeutschland warb eine antisemitische Propaganda nach dem Tod des liberaldenkenden Zentrumpolitikers und geschicktesten Bismarck-Opponenten, Ludwig Windhorst, im Jahre 1891, katholische Wähler für die nunmehr von mittelständischen Interessen geführte Zentrumspartei. (Mancher Leser wird hier an das Wort des Stockjunkers von Mol- chow im 20. Kapitel erinnert: .... Wir müssen mit dem Zentrum paktieren. Dann sind wir egal raus.’)
Gleichzeitig setzte zu Anfang der 90er Jahre der radikale Flügel der deutschkonservativen Partei unter Hammerstein bei dem Tivoli-Parteikongreß in Berlin (1892) gegen die Gemäßigten durch, daß der Antisemitismus ins offizielle Parteiprogramm aufgenommen wurde.
Ich will in diesem Gespräch der Vertreter zweier Generationen deutscher Juden keine bewußte Anspielung durch Fontane auf diese Entwicklungen sehen. Doch wird man bei genauer Lektüre die exemplarische Funktion jener jüdischen 124