Heft 
(1992) 53
Seite
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Freilich favorisierten die Menschen in Deutschland des ausgehenden 19. Jahr­hunderts solche Pauschalurteile, und daß der bekannte Germanist Litzmann seine Sentenz ganz im Sinn des treitschkeschen "Männer machen Geschichte"- Syndroms bildete, konnte einer Generation nur recht sein, die vier Jahr später mit Begeisterung die Umfrage der "Berliner Illustrirten Zeitung" nach den "Größ­ten des Jahrhunderts" mitmachte und, sämtliche internationalen Konkurrenten aus dem Feld schlagend, ihren Reichskanzler Bismarck als "größten Staats­mann des Jahrhunderts" auf den ersten Platz setzte. 2 Fontane fühlte sich zwar von solch Ständig-um-die-Meinung-Gefragtwerden gequält, war aber auch dar­in Sohn seiner Zeit, daß die historische Erscheinung des Reichskanzlers ihn bis an den Vorabend seines Todes faszinierte. Er hätte sicherlich kurzen Prozeß mit den neuzeitigen Strukturalisten gemacht oder überhaupt mit jenen, die Bismarck den Titel Reichsgründer strittig gemacht hätten. Das war die authentische histo­rische Leistung, die für Fontane bei aller wachsenden Kritik des Menschen und der Zeiterscheinung Bismarcks diesem einen festen Platz in den Annalen der preußisch-deutschen Geschichte gesichert habe: So in den Worten des kleinen Mädchens in Die preußische Idee (1894): " Aber Sie haben doch angefangen''. 3 Jedoch Fontane, anders als seine Zeitgenossen, wandte sich im Alter gegen die Tendenz seiner Zeit, Bismarck zu einer mythischen Gestalt hochzustilisieren. Die besondere Bewandtnis des "genialen Kraftmeiers im Sachsenwald " 4 war ihm stets präsent, und er neigte auch lange zu der Ansicht seiner Zeitgenossen, daß wahrhafte historische Größe Genie und Charakter erfordere. Aber dennoch sind es nicht einfach Bismarcks von Fontane in kräftiger Sprache beschriebenen charakterlichen Schwächen, sondern sein durch sie bedingtes politisches Ver­mächtnis, das Fontane im Alter veranlaßte, sich in seinen Briefen immer kriti­scher über den Reichskanzler zu äußern und ihn im Erzählwerk geradezu zu entmythologisieren.

Die Allgegenwart der Gestalt Bismarcks in den Briefen und anderen autobiogra­phischen Schriften Fontanes und in seinen Gelegenheitsarbeiten, wie Essays, Theater- und Buchkritiken, ist, dank der arbeitsaufwendigen Zusammenstellung von Registern durch die Fontaneeditoren und -editorinnen, leicht nachzuvoll­ziehen. Das Tagebuch der letzten Lebensjahre gibt Zeugnis seiner anhaltenden Beschäftigung mit dem Reichskanzler vor und auch nach der Entlassung; die regelmäßige Wiederkehr des Bismarckgeburtstages wird meist zum Anlaß einer Stellungnahme zur Person des Reichsgründers. Daß Fontane lange zum Bis­marckgeburtstag seine Karte in der Bismarckwohnung in der Wilhelmstraße abgab, gibt uns einen Einblick in die besondere Art der damaligen politischen Öffentlichkeit. Über einen Prozeß der Personalisierung der staatlichen Autorität wurden die Bürger bzw. die Untertanen veranlaßt, den autoritären Staat voll zu akzeptieren, so daß sie sich mit einer so ungemein hierarchischen Gesellschaft, wie es die wilhelminische war, verbunden fühlten und sogar mit ihr identifizie­ren konnten. Wie dem englischen Staatsbürger seine Staatsmänner wie Palmer­ston, Disraeli, Gladstone, war dem politisch interessierten Deutschen, zumal dem Berliner, die Person Bismarck handgreiflich nah - freilich nur dann, wenn sich der Reichskanzler bequemte, in Berlin zu erscheinen. Der Reichstag war für Fontane von seiner Wohnung in der Potsdamer Straße 'fußläufig' zu erreichen, und wenn er im Alter nicht mehr hin konnte oder wollte, so erlebte er die hohe Kunst der bismarckschen Reden aus zweiter Hand durch seine Frau und Toch­ter oder mit ästhetischem Vollgenuß - "wie der reine Zucker, 5 wie es einmal bei

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