Entfettungskur durch seinen Arzt Dr. Schweninger, mit der ja eine Art "Verjüngung" aller Welt vor Augen geführt wurde 58 , dabei ebenso recht wie alle Formen, in denen seine Persönlichkeit zum Sinnbild nationaler Identifikation stilisiert wurde. 59 Und er strickte selbst in seinen bereits erwähnten Parlamentsreden vom 2. und 12. März 1885 mit Fäden aus dem germanischen Edda-Mythos. Wenn es den Deutschen zu gut gehe, würden sie die Zeichen ihres "Völkerfrühlings" nicht erkennen, und es fehlten dann auch nicht Loki und Hödur, diesen Frühling "zu erschlagen respektive niederzustimmen". 60
Paul Lindau, in seiner Eigenschaft als Herausgeber, unter dessen Ägide auch Fontane mit seinem Bismarck-Gedicht stand, bezog in diesem Wendepunkt der Reichspolitik nach 1871 klare Position. Das beweist das "Nord und Süd"-Heft und nicht weniger die April-Nummer der "Gegenwart". In dieser lange Jahre von Lindau geleiteten und weiterhin mit seinem Namen verbundenen Wochenschrift hatten sich seit Jahreswechsel Beiträge über "Deutschtum außerhalb der Reichsgrenzen" oder über "Principien unserer Colonialpolitik" 61 gehäuft. Und Philipp Zorn, der auch den Gratulationsartikel für Bismarck in der "Gegenwart" verfaßte, wurde nicht müde, seine Leser zu ermuntern, sich der "Gewalt eines übermächtigen, titanenhaften, welthistorischen Menschen, dessen höchstpersönliche Arbeit seit Jahrzehnten alle bedeutenden Momente der inneren und äußeren Politik bestimmt" 62 habe, zu beugen. Wenn ein solcher Mann sich auf der politischen Bühne der Weltgeschichte bewege, "scheint das constituionelle System zu versagen" und man dürfe sich freuen, "unter einer geistigen, durch die Weltgeschichte auf's Gewaltigste bewährten Diktatur" 63 zu leben.
Man muß nur Rodenbergs "Deutsche Rundschau" im Bismarckjahr danebenlegen, um zu erkennen, daß Lindau und seine Blätter sich tatsächlich ungewöhnlich engagiert ins Zeug legten. Die "Rundschau" gab gründliche Berichte über den Stand der Bismarck-Literatur (zweimal im laufenden Jahr) und beließ es ansonsten bei einer Schilderung der Feiern im Rahmen der Rubrik: "Politische Rundschau". Die von Bismarck 64 geführte Klage über fehlenden Nationalsinn und gegen seine Person gerichteten Parteienzwist, in die Lindaus Zeitschriften durchweg einstimmten 65 , findet sich dort nicht. "Ein Lebendiger, kein Todter, ein Mann der That, kein Dichter und Denker, ein Staatsdiener, kein gekröntes Haupt wurde gefeiert - und", so heißt es in der "Rundschau" prononciert, "dennoch nahm das gesammte Vaterland, nahm die Bevölkerung aller Landestheile, aller Gesellschaftsschichten und nahe zu aller Parteien an diesem Feste Theil". 66 Bleiben einige Fragen zum Schluß: Hat Fontane diese Einbettung seines Jutig- Bismarcks bemerkt, hat er sie reflektiert oder gar moniert? Fand er den "Sängerkrieg", der ihn in einen unter sieben " Barden " verwandelte, vielleicht nicht doch verletzend, verletzender, als er es Heyse glauben machen wollte? Schenkte er der neuakzentuierten Bismarck-Tendenz, in die sein Gedicht gestellt wurde, überhaupt Aufmerksamkeit? Äußerungen dazu fehlen. Sie fehlen auch über Lindaus Beziehungen zu Bismarck, die wenige Jahre später mit dem öffentlichen Vorwurf, "daß 'Lindau die Stellung eines Leibjournalisten und Nachrichten-Unterhändlers der Familie Bismarck geschickt mit seiner kritischen Thätigkeit in einem freisinnigen Blatte (gemeint war allerdings das "Berliner Tageblatt" - R.B.) zu verbinden verstanden habe'" 67 , zum öffentlichen Skandal um Lindau führten. Ein Vorwurf, der aus Lindaus Bismarck-Aktivitäten 1885 keineswegs entschärft wird.
Fontane, noch einmal, hat diese Seite der Angelegenheit offenbar nicht gestört. Es mag dahingestellt bleiben, ob sie ihm sogar behagte und in ihrem Verknüpfen 52