Heft 
(1992) 53
Seite
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tümliche lebende poetische Gattung, die sich mit zeitgenössischen Themen be­faßte, eine Stimme für die Gegenwart, die in den Formen und Traditionen der Vergangenheit wurzelte. Für Fontane stellte die Ballade ein Mittel dar, mit deren Hilfe er seine Liebe für Geschichte mit seinem Interesse an zeitgenössischer Wirklichkeit verbinden konnte. Fontanes Behandlung von Tagesthemen in sei­nen Balladen ist wiederholt als bahnbrechend für die deutsche Ballade schlecht­hin anerkannt worden, 2 und sie läßt sich auf seine literarischen Erfahrungen in England zurückführen, auf das Beispiel Tennysons und die Verfasser der penny ballads (Straßenballaden), die mitunter ihren Stoff in den Berichten der Tage­spresse fanden. Unter seinen Balladen zu Tagesthemen, die sich unmittelbar auf Zeitungsberichte gründen, ist wohl die bekannteste Die Brück am Tay. Seine Ver­sion des Brückenunglücks am 28. Dezember 1879 wurde am 10. Januar 1880 veröffentlicht. 3 Obwohl Prolog und Epilog der Ballade - die schicksalhaften Äu­ßerungen der Hexen aus Shakespeares "Macbeth" - sich m. E. zu sehr von dem Hauptteil des Gedichts abheben, ist die balladeske Behandlung des Eisenbahn­unglücks selbst unmittelbar wirkungsvoll und ergreifend. Fontane schrieb über dieses Gedicht:Es hat eine Art Sensation gemacht, vielleicht mehr als irgend was, was ich geschrieben habe." 5 Ausnahmsweise hatte sein Werk ein starkes Echo beim zeitgenössischen Publikum gefunden, und zwar in solchem Maße, daß der Schau­spieler Richard Kahle bei einem Konzert in der Singakademie eine dramatische Lesung der Ballade darbot. Ein zweites interessantes, aber selten erwähntes Ge­dicht, welches ebenfalls in die Kategorie der Zeitungsberichtsballaden gehört, ist Goodwin-Sand. Den Stoff fand Fontane in der "Times" vom 7. Januar 1857, wo unter der Überschrift "Reported Löss of the Mail Packet Violet" der Untergang des Ostende-Postdampfers bei Schneesturm in der Nacht vom 5. Januar an den Goodwin-Sandbänken bekanntgegeben wurde. Die Ballade entstand wenige Tage später, am 13. Januar, und ein Einblick in die Briefzeugnisse aus diesen Tagen ist psychologisch aufschlußreich für Fontanes Arbeitssweise. Am 10. Januar schreibt er unruhig und besorgt aus London an die gute Familienfreundin, Henriette von Merckel:

Sie werden gehört haben, daß in der Nacht vom 5. auf den 6. d. M. der Ostend-Steamer mit Mann und Maus an der englischen Küste unterge­gangen ist. Ob der Briefsack andern Tags aufgefischt worden ist, ist nicht erwiesen. Einige sagen 'ja', andere 'nein '. Es ist also möglich, daß Briefe, die in Berlin am 3. und 4. (Sonnabend und Sonntag) zur Post gegeben wurden, in den Untiefen von Goodwin Sands begraben liegen. Meiner Frau will ich von dem ganzen Unglück nichts schreiben, weil sie denken könnte, nun muß jeder Steamer untergehn.

... darf ich Sie freundlichst bitten, mich in nur 6 Zeilen wissen zu lassen, wie es denn eigentlich steht?! Es ist mir rätselhaft, daß die Besatzung von Bellevuestraße 16 so schreibfeindlich ist. Etwas läßt man sich schon gefallen.

Sowie ich (so Gott will) gute Nachricht von Berlin habe, setz ich mich in derselben Stunde hin und beantworte dann mit ruhigem Gemüt Ihre letzten lieben Briefe. ... 6 .

Aus diesem Brief spricht die Unruhe des vereinsamten, auf sich selbst angewie­senen Ehemannes um die derzeit in der Berliner Bellevuestraße wohnenden Frau und Kinder. Er bemängelt, allerdings halb selbstironisch, die Schreibfaul­heit seiner Frau. Ein Fehler, den er ihr auch bei anderer Gelegenheit vorwirft. 74