Heft 
(1992) 53
Seite
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Daß er ihr Schweigen rätselhaft findet, macht deutlich, daß er keine Vorstellung von dem Aufwand an Zeit und Energie hat, die bei der Pflege eines Haushaltes samt kleinen Kindern benötigt werden. Zu dieser Zeit waren George Fontane vier Jahre und der kleine Theo erst neun Wochen alt, und ihre Mutter war außerdem krank. Daß sein cri de coeur bald beantwortet wurde und der er­wünschte Brief dann doch demnächst eintraf, läßt sich daraus schließen, daß er schon am 13. Januar den versprochenen ausführlichen Brief an die Merckels schreiben konnte. 7 Am gleichen Tag verfaßte er auch Goodwin-Sand.

Emilies Brief vom 19. Januar blieb im Fontane-Archiv erhalten und ergänzt das Bild der gegenseitigen Sorge, wie folgender Auszug zeigt:

Berlin d 10t. Jan. 57

Geliebter Mann.

Gestern erhielt ich Deine lieben Zeilen vom 7ten, aus denen ich mit Verwunderung sah, daß Du noch nicht im Besitz eines am 4ten hier abgeschickten Briefes warst; Fr. v. Merckel und ich haben Dir darin ganz ausführlich geschrieben: Gestern abend lese ich in der Zeitung zu mei­nem großen Schrecken, daß zwischen Ostende und London ein Dampf­schiffuntergegangen, ich glaubte auf der Tour käme das nie vor. Mit dem Schiff kann möglicherweise unser Brief verloren gegangen sein, es stand zwar da: 'das Postpaket sei gerettet' wenigstens seine Ankunft verzögert u. das will ich hoffen, denn obgleich nur mit Bleistift geschrieben, war er mir noch sehr sauer geworden. 8 Es geht mir täglich besser, aber die Krankheit muß so heimtückischer Art sein, daß bei der größten Achtsam­keit ich immer noch mal einen Genickschlag bekomme. Vorgestern hatte ich Krampf im Halse und Kinnbacken u. dachte wieder mal zu sterben u. rief immer: ach Mütterchen ich möchte doch noch einmal meinen Theo­dor sehen u. nun muß ich doch noch sterben! wie ich weinen konnte, war es wieder gut. Mutter läßt Dir sagen es reichten wohl nicht 100mal daß ich in meiner Krankheit gesagt hätte: ich trenne mich nie wieder von meinem Theodor - u. das sage ich jetzt mit gesunden Sinnen erst recht(...)

Der Gedanke liegt nahe, daß dieses Gedicht über Gefahr und Unsicherheit erst dann zustande kam, als sich der Autor des Geborgenseins seiner Familie schon sicher fühlte. Aus seinem Brief geht deutlich hervor, daß er durch die ausblei­benden Nachrichten sehr beunruhigt war. Bei der Nachricht vom Untergang des Dampfers war sein Hauptgedanke der an seine Post und schließlich auch an die mögliche Reaktion seiner Frau, die sich und ihre Kinder innerhalb der nächsten sieben Monate einem ähnlichen Steamer anvertrauen sollte. Es scheint also, daß nicht nur der versprochene Brief an die Merckels, sondern auch das vollendete Gedicht Ausdruck seiner Erleichterung, seiner wiedergefundenen Gemütsruhe ist; daß die formale Lösung, d.h. die dichterische Verarbeitung des Themas Le­bensgefahr und Tod durch die hinterhältigen, unberechenbaren Kräfte der Na­tur, gleichsam als nachträgliches Verbannen der eigenen Ängste gelten darf. Diese wurde aber, wie es scheint, erst möglich, als die Angst um das Wohlsein der Familie schon behoben war, und der Dichter wieder die Ruhe zur künstleri­schen Gestaltung gefunden hatte. Dichten als Therapie also nur im Sinne eines nachträglichen, mittelbaren Ausdruckes eines Traumas.

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