Heft 
(1992) 53
Seite
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Was immer auch der psychologische Hintergrund für die Entstehung von Good- win-Sand sein mag, das Gedicht selbst lohnt eine nähere Betrachtung. Seine Ausdruckskraft beruht auf einem unerbittlichen Rhythmus, der dunklen Vokal­musik und der erweiterten Metapher der Schlange. Das Gedicht ist eine packen­de Evokation der Gefahr, und das Thematisieren eines Abstraktums, hier der Gefahr, ist ungewöhnlich in Fontanes Balladen, und auch wenn man einwenden könnte, daß die Gefahr sich in der Konkretheit der Sandbänke manifestiert, so bleibt doch zu berücksichtigen, daß Fontane diese konkrete Wirklichkeit nicht aus eigener Erfahrung, sondern lediglich durch schriftliche Berichte kannte; und wichtiger noch, daß das Wesen der Sandbänke im Gedicht gerade durch ihre Wesenslosigkeit, ihr Weder-Meer-noch-Landsein charakterisiert wird. Das für Fontane Untypische an diesem Gedicht hat Hans Rhyn in seiner Monographie über Fontanes Balladen implizit anerkannt, indem er für Goodwin-Sand eine eigene Rubrik erfand: "Das geographische Stimmungsbild ." 9 Das Gedicht ist auch insofern untypisch, da ihm das spezifisch Anekdotische, das individuell Menschliche fehlt. Die Perspektive bleibt allgemein, wir sehen niemanden er­trinken (auch nicht die Postsäcke, wie sie in die Tiefe sinken!), die Wortwahl bleibt generell:Meer",Schiff,Sturm, "Mannschaft" , usw. Das kontrastiert zum Beispiel mit der Behandlung verwandter Themen in Die Brück am Tay und John Maynard. Bei allen dreien war der Ausgangspunkt ein aktuelles Unglück. Fontane verwendet die Balladenform, um dem zeitgenössischen Publikum tat­sächlich bestehende Gefahren nahezubringen, aber auf eine Weise, die aufgrund der Gattungstradition einen weiteren Aspekt in sich birgt. Das den Gedichten zugrundeliegende Thema vom menschlichen Ausgesetztsein gegenüber den unberechenbaren Naturkräften ist ein universales und kein zeitgebundenes. Die spezifische Todesgefahr des Ertrinkens, die in jedem der vorliegenden Fälle mit der zum Greifen nahen Rettung verbunden wird - das Reiseziel ist so nahe, daß es den zum Tode Geweihten buchstäblich vor Augen steht - übte auf Fontane offensichtlich eine besondere Faszination aus. Die Kinderjahre in der Hafenstadt Swinemünde hinterließen, wie es scheint, eine lebenslängliche Faszination mit Schiffen und der See, welche sich nie von dem Bewußtsein darin verborgener Gefahren befreien ließ. Das Eigentümliche an dem Goodwin-Sand- Gedicht liegt aber darin, daß wir das beklemmende Erlebnis des Untergangs nicht durch das Einzelschicksal eines vom Dichter namentlich benannten Opfers, wie Johnie im Edinburger Zug oder ­ John Maynard auf dem Schiff 'Schwalb e' vermittelt bekom men, sondern poetisch verallgemeinert im sich wandelnden Bild des unheilbrin­genden Naturphänomens selbst.

In der ersten Strophe gestaltet Fontane eine drohende Stimmung. Mit lapidaren Einsilben, die durch den schwerfälligen Rhythmus die träge, aber unerbittliche Art der lauernden Gefahr heraufbeschwören, entwirft er in einfacher Sprache ein Bild der realen Beschaffenheit der Sandbänke, das sie obendrein mit den Eigenschaften eines mythischen Ungeheurs assoziiert. Das Bild von der Schlan­ge, welches Fontane wählt, um das Wesen der tödlichen Sandbänke zu vermit­teln, spielt zugleich auf die Eigenschaften eines unter den Wellen lebenden Mon­strums, etwa eines Leviathan an, und auch auf die körperlichen Eigenschaften einer Schlange, die sich "langsam, satt und schwer hin und her bewegt; das heißt, die sich an einem unbekannten Opfer schon sattgefressen hat und sich nun nach rechts und links hinschlängelt, vermutlich auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Das Bild bringt zum Ausdruck, daß die Gefahr etwas Überdimensionales 76