Heft 
(1992) 53
Seite
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und Lebendiges ist, das sich, wenn auch schwerfällig, unsichtbar und unab­wendbar, bewegt. Die zweite Strophe ist rhythmisch differenzierter. Die Zeilen 1, 2 und 4, die von vielsilbigen Wörtern getragen werden, handeln von mensch­lichen Versuchen, die Elemente zu bezwingen, um sicher nach Hause zu gelan­gen. Diese vielsilbigen Zeilen werden aber von dem unausweichlichen Rhyth­mus der Einsilben verdrängt. Dabei spielt, wie in den anderen Strophen auch, die Wiederholung eine ausschlaggebende Rolle. Die Metapher der Schlange wird wiederholt und erweitert, indem die Bänke in dieser Strophe nur in uneigentli­cher Form als Schlange auf- oder besser untertauchen. Zuerst wird konkret und nüchtern behauptet: "Da schiebt sich die Schlange unter den Kiel, wobei das ge­waltige Ausmaß der Schlange deutlich wird. Das kann nur ein Ungeheuer sein, und die folgende Zeile, "Und ringelt Schiff und Mannschaft hinab" deutet an, daß das Naturphänomen, die Sandbänke, mit böser Absicht agiert. Es wird leise auf eine abgründige, für das menschliche Auge nicht wahrnehmbare Welt mythisch anmutender Kräfte hingedeutet, denen der ahnungslose Mensch trotz aller Be­mühungen ausgeliefert ist. Nachdem das Stimmungsbild der ersten Strophe in der zweiten vorübergehend von den irrenden Schiffen gestört worden ist, stellt sich in der letzten Strophe die bedenkliche Scheinruhe der ersten Strophe wie­der ein, aber doch in leicht verwandelter Form. Die Mastspitzen der unterge­gangenen Schiffe sind nun Teil der Szene, und was im Anfangsbild geheimnis­voll als "nicht Meer... nicht Land" bezeichnet wurde, verrät jetzt dem Leser sein grausiges Geheimnis:

Ein Kirchhof ist's, halb Meer, halb Land, -

Das sind die Bänke von Goodwin-Sand.

Das Bild der Schlange symbolisiert das unbeständige, chaotische Prinzip. Gera­de das sind die Goodwin-Sandbänke - sowohl eine eigentliche Gefahr für Ma­trosen als auch zeichenhaft für das Unsichere, Bedrohte, Zerbrechliche im menschlichen Leben. Ohne durch den ausdrücklichen Eingriff übernatürlicher Mächte, wie es in Die Brück am Tay der Fall ist, wo Hexen als Agitatorinnen des Unglücks fungieren, deutet Fontane in diesem früheren straff strukturierten Gedicht die Existenz rational unbezwingbarer Kräfte an, von denen der Mensch zwar sprechen kann, denen er aber gelegentlich resigniert unterliegen muß.

Die Technik des Andeutens durch den Vergleich mit der Schlange, die auf die geheimnisvolle Macht eines mythischen Leviathan hinweist, ist in ihrer diskre­ten Weise in diesem Gedicht wirksamer als in der späteren berühmteren Tay- Ballade, in welcher der Leser durch Hexen am Anfang und am Ende mit der Aussage des Gedichtes konfrontiert wird. Goodwin-Sand ist weniger spektakulär als Die Brück am Tay, dafür aber formal einheitlicher und inhaltlich verhaltener und subtiler.

Anmerkungen

1 Die hier zitierte Fassung wurde der 2. Auflage der Gedichte von 1874 (vordatiert auf 1875) entnommen. Für die früheren Varianten, deren künstlerische Gestalt und stro­phische Gliederung weniger überzeugend sind, siehe Fontane, Gedichte, Hrsg. Joa­chim Krueger und Anita Golz, Berlin und Weimar 1989,1. S. 554 und II. S. 89. Zitierte Fassung, ebenda I, S. 170f.

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