Ein vergleichbares Beispiel, wenn auch Motivation und Wirkung differieren, liefert der Auftrag an die Schwester Elise, den Gründen für den 1806 erfolgten Totschlag eines Franzosen in Dreetz in der Grafschaft Ruppin nachzuspüren; Fontane erhofft sich davon Gewinn für ein Kapitel der Wanderungen:
Wahr braucht es ja nicht zu sein, der 'Volksmund' hat das Vorrecht zu lügen so viel er will, es heißt dann ‘Sage' und wird von den Gelehrten oder Käuzen meines Schlages mit höchstem Respekt behandelt. Trommle also in Dreetz noch ein paar Menschen zusammen: einen Schäferknecht der sich absteigend entwickelt hat, eine 'weise' Frau, einen wahrsagenden Imbecile, einer davon wird doch wohl zum Donnerwetter soviel Erfindungskraft haben, um 'rauszukriegen, warum dieser arme Franzose eigentlich todtgeschlagen worden ist. Ich selbst kann und darf nichts erfinden, einmal weil es gegen das ‘historische Gewissen’ ist, dann weil es in meinem Gemüthe feststeht, daß der biedre Dreetzer von 1806 den Franzosen so todt schlug wie man einen Pfahl in die Erde schlägt, oder mit noch viel weniger Grund. Wahrscheinlich war es ein Zurückgebliebener, ein Kranker, der sich die Füße durchgelaufen oder eine dicke Backe hatte; da rafften sich Muth und Vaterlandsliebe auf und baff, da lag er! Ich kenne meine Dreetzer; einer ist wie der andre , 16
Der Erzähler kann das Wort abgeben, weil die Wahrheit zu banal, er kann es aber auch tun, weil sie zu brisant ist. Nimmt er dann das Wort wieder auf, und gibt er sich als den „Versöhnlichen, den Ausgleichenden", so bedeutet das nicht notwendigerweise, daß ihm so zumute ist. Er „spielt" den Versöhnlichen, es ist eine Rolle; das Verfahren zielt darauf ab, die „Wahrheit" unter die Leute zu bringen.
Ist es aber überhaupt zulässig, an eine relativ unbedeutende Korrespondenz weiterreichende Überlegungen zu knüpfen? Darauf läßt sich am besten mit einem von Fontane gern zitierten Sprichwort antworten: „An einem Strohhalm sieht man am deutlichsten, woher der Wind weht." 17 Fontanes Äußerung gegenüber Possart gehört in den Umkreis einer einst heftigen Auslegungsdebatte, die sich an dem mißverständlichen Titel einer 1937 erschienenen Nachlaßsammlung von Familienbriefen entzündete. „Heiteres Darüberstehen" hatte der Berliner Verleger Gustav Müller-Grote dem ihm befreundeten Friedrich Fontane als Titel vorgeschlagen, und als dem Geist des Vaters voll entsprechend hatte dieser ihn akzeptiert. 18 Es bedarf keiner erneuten Darlegung, daß Fontanes Briefwerk insgesamt keineswegs von einem solchen Geist geprägt ist. Weniger leicht fällt die Antwort bei den von Fontane selbst veröffentlichten großen und kleinen Prosawerken beziehungsweise der Alterslyrik bis hin zur verklärten Serenität des „Stechlin". Dafür, daß es sich bei der vorgeblichen gelassenen Distanz nicht selten um eine Kunstfigur handelt, die engagierte Teilnahme nur verbirgt, bildet das zitierte Briefbekenntnis ein unauffälliges Zeugnis.
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