Heft 
(1992) 54
Seite
22
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Der Stechlin

Kabel unter der Nordsee. Damit sind wir fast schon beim Stechlin. Eda Sagarra hat mit Recht darauf hingewiesen, daß in diesem Roman Fontanes der Tele­graph nicht nurein Zeichen der Zeit" ist, sonderngleichsam als moderne Variante des ebenso natürlichen wie mysteriösen Phänomens angelegt, das der Stechlinsee mit jenen unterirdischen Verbindungen darstellt. Die ebenfalls 'unterirdisch' - von der Firma Siemens! - verlegten Telephonleitungen" reagier­ten ähnlich unmittelbar wie der Stechlinsee:Der Telegraph schafft ein neuarti­ges Bewußtsein von historischer Gleichzeitigkeit"; 35 und er erspart einem das eigene Erleben 'vor Ort', wie bereits 1876 Wilhelm Raabe in Horacker seinen Konrektor Dr. Werner Eckerbusch sagen läßt, der bezeichnenderweise dieselbe Wogen- und Wellensymbolik nutzt, die Fontane zur Beschreibung der Eigentümlichkeiten des Stechlinsees verwendet:

In früheren Jahrhunderten mußte jeder, der geistig mitleben wollte, hin­ausgehen und sich persönlich in den Erdentumult mischen. Heute ist das anders. Heute sitzt man still, darf man stillsitzen, meine Herren; und die großen Wogen kommen doch zu einem und gehen einem mit ihrer Ideenfülle - über den Kopf weg! Was will es am jetzigen Tage sagen, wenn jemand die Pyramiden maß oder in einer Schlacht stand? Meine Herren, das Nilquellenentdecken und Nordpolaufsuchen, sowie das per­sönliche Abfeuern der Flinte will wenig mehr bedeuten gegen das inhalt­volle Stillsitzen des grübelnden Denkers. Gegen den elektrischen Tele­graphen ist alles Selbsterleben oder Mitmachen von einer wunderlichen Unbedeutendheit -" 36

Die Telegraphie, die also als Medium 'Unmittelbarkeit' zu ersetzen beginnt, erlaubt dem Zeitgenossen jedoch nicht nur Gleichzeitigkeit, sie ist sogar 'schneller' als die historischen Ereignisse selbst, wie Fontane Dubslav von Stechlin sagen läßt:

Schließlich ist es doch was Großes, diese Naturwissenschaften, dieser elektri­sche Strom, tipp, tipp, tipp (...). Und dabei diese merkwürdigen Verschiebungen in Zeit und Stunde. Beinahe komisch. Als anno siebzig die Pariser Septemberre­volution ausbrach, wußte man's in Amerika drüben um ein paar Stunden früher, als die Revolution überhaupt da war." 37

Der Telegraph, diese technische Neuerung, wird für Dubslav zu einem der Sinnbilder der Revolution" selbst. 38

Geschwindigkeit und Politik" nennt Paul Virilio einenEssay zur Dromolo- gie", 39 wie er jene Wissenschaft bezeichnet, die sich mit dem modernen Zeital­ter befaßt, sofern in ihm alles 'zu schnell' geht. 40 Fontane hat Dubslav zu einem der ersten Theoretiker dieses Zeitalters gemacht.

Um das folgende exponieren zu können, muß ich ausführlicher zitieren, was Fontane seinen Telegraphie-Theoretiker Dubslav u.a. sagen läßt:

Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache, manches wird besser, aber manches wird auch schlechter, und die feinere Sitte leidet nun schon ganz