gewiß. Schon die Form, die Abfassung. Kürze soll eine Tugend sein, aber sich kurz fassen, heißt meistens auch, sich grob fassen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort 'Herr' ist beispielsweise gar nicht mehr anzutreffen. Ich hatte mal einen Freund, der ganz ernsthaft versicherte: 'Der häßlichste Mops sei der schönste'; so läßt sich jetzt beinahe sagen, 'das gröbste Telegramm ist das feinste.' Wenigstens das in seiner Art vollendetste. Jeder, der wieder eine neue Fünfpfennigersparnis herausdoktert, ist ein Genie." 41
Entsprechend dieser Beobachtung, die auf Fontanes Redaktionserfahrung mit den Depeschen des „Wolffschen Telegraphenbureaus" zurückgehen könnte,42 kann Fontane kein stärkeres Bild erfinden, um den Kontrast zwischen dem 'alten' Stechlin und seinem 'modernen' Sohn Woldemar literarisch zu doku- mentieren, als bei diesem eine ganz andere Art des Umgangs mit dem 'Institut' Telegramm zu inszenieren.
Woldemar weilt in London, die Barbys erhalten von dort ein Telegramm. Melu- s ine fragt Czako, ob auch er Nachricht von Woldemar habe:
„Heute, gnädigste Gräfin. Und auch ein Telegramm. Ich hab' es mitgebracht, weil ich an die Möglichkeit dachte..."
„Bitte, lesen."
Und Czako las: „London, Charing Cross-Hotel. Alles über Erwarten groß. Sieben unvergeßliche Tage. Richmond schön. Windsor schöner. Und die Nelsonsäule vor mir. Ihr v. St."
Melusine lachte: „Das hat er uns auch telegraphiert."
„Ich fand es wenig", stotterte Czako verlegen, „und als Doublette find' ich es ; noch weniger. (...)
' (...) Nur der alte Graf wollte davon nichts wissen.
„Was verlangt ihr? Es ist umgekehrt ein sehr gutes Telegramm, weil ein richtiges Telegramm; Richmond, Windsor, Nelsonsäule. Soll er etwa telegraphieren, daß er sich sehnt, uns wiederzusehn?3 (...) "4
•Damit trifft der alte Barby genau ins Schwarze. Denn Briefe von Männern an
Frauen müssen, wie Roland Barthes am Beispiel von Goethes We rther g ezeigt hat, genau dies artikulieren und nichts als dies: Sehnsucht. Im Werther werde -
so Barthes -, „nach Art eines musikalischen Themas, eine einzige Information variiert: ich de nke an Sie."44 G enau davon aber steht nichts in Wolde- mars Telegramm an die Barbys. Und deswegen gibt sich Melusine auch nicht zufrieden, sondern macht dem zurückgekehrten Telegraphisten Vorwürfe:
„S ie sollten mir in einem Briefe von den Engländerinnen schreiben. Aber wer darüber nicht schrieb, das waren Sie, wenn wir uns auch entschließen wol- len, Ihr Te legramm f ür voll anzusehn."45
Frauen haben - so Friedrich A. Kittier - in Deutschland traditionell gleichsam ein Recht darauf, von Männern in die Rolle von Leserinnen versetzt zu werden,46 v on Leserinnen männlicher Briefe. Melusine kann deswegen - über- spitzt formuliert - einen Mann, der Frauenfragen mit Telegrammen beantwortet, trotz ihrer gegenteiligen Beteuerung nicht für „voll" nehmen; entsprechend
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