Heft 
(1992) 54
Seite
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Du hast ja den Brief noch in der Tasche."

Richtig. Den hätt' ich fast vergessen." 53

Eine Druckseite später muß die Mutter wiederum mahnen:

Aber nun lies mir den Brief vor, wenn er nicht was ganz Besonderes enthält oder vielleicht Geheimnisse."

Geheimnisse", lachte Effi und sprang in plötzlich veränderter Stimmung wie­der auf.Geheimnisse! Ja, er nimmt immer einen Anlauf, aber das meiste könnt ich auf dem Schulzenamt anschlagen lassen, da, wo immer die landrätlichen Verordnungen stehen. Nun, Geert ist ja auch Landrat." 54

Der Mann Innstetten wählt also formal das traditionell richtige Medium, um eine Frau, zumal die eigene Verlobte, zu adressieren: den privaten Brief. Inhaltlich jedoch hat sein Brief den Charakter einer Depesche, die man öffentlich aushängen kann; so wie die 'Chefin' von Innstettens Chef die Telegramme ihres Mannes öffentlich bekanntmachen kann, ja soll. 55 Oder anders: Die öffentliche Figur Innstetten, dem ja immer wieder der Dienst an und für Bismarck wichtiger sein wird als jede Bitte seinerjungen Frau", hat keine Sprache für die private Kommunikation mit seiner Ver­lobten; es fehlen ihm - mit Roland Barthes zu sprechen - selbstFragmen­te einer Sprache der Liebe". 56

Ich erspare Ihnen den langen und bezeichnenden Disput, den Mutter und Tochter über Innstettens Brief führen, und deute nur an, daß das Ehepaar Inn­stetten, wenn es getrennt ist, gern per Telegramm kommunizieren wird; so z.B. wenn Effi eine Krankheit erfinden wird, um bei ihrer Mutter bleiben zu können und nicht noch einmal nach Kessin zurückkehren zu müssen; sie wird also - weit entfernt von ihrerNaturkind"-Position - wie der Chef ihres Mannes, der von Fontane so genannteMogelant" , 57 depeschierend 'mogeln' und damit demonstrieren, wie sehr sie dem Bismarck-System verfallen ist. 58 Es han­delt sich also um eine nicht zu überbietende Perversion der - von Kittler so benannten -Aufschreibsysteme": 59 Traditionellerweise schreiben - wie gesagt - Männer Briefe, und die Frauen sind Leserinnen; wenn - wie Woldemar - der Mann Frauen telegraphiert, ist die - z.B. für eine Ehe wünschens­werte - 'Menschlichkeit' dahin; wenn nun aber gar eine Frau telegraphiert, und dazu noch die Unwahrheit, dann ist das als ein Symbol für menschliche Beschädigung zu lesen, wie es krasser nicht sein könnte.

Doch zunächst ein Blick auf Effis Weg von Hohen-Cremmen nach Kessin: Der Übergang aus der Kinder- und Naturwelt Hohen-Cremmens in die Welt Kes­sins, also Bismarcks, wird von Vetter Briest in Berlin vorbereitet, und zwar sehr behutsam: Zwischen den beiden Zügen bleibt Zeitzum Besuche des St. Privat- Panoramas" Daß Fontane Effi und Innstetten diesen patriotischen 'Umweg' machen läßt, ist deswegen bemerkenswert, weil dadurch ein Anachronismus entsteht: DasPanorama des Sturmes auf St. Privat" wird vom 24. Februar 1881 bis Dezember 1883 im BerlinerNationalpanorama" in der Herwarthstraße ausgestellt; 61 Effi und Innstetten heiraten aber bereits am 3. Oktober 1877 und treffen am 14. November in Kessin ein. 62 Warum dieser Anachronismus?

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