Das Stichwort 'St. Privat' hat damals offenbar noch dasselbe Gewicht wie das Stichwort 'Sedan' (wie denn auch das berühmte Sedan-Panorama am Alexanderplatz entsprechend später eröffnet wird ); 63 beide Panoramen sind offenbar damals noch gleichwertige Synonyme für 'Bismarck': Bothos Onkel z.B., der - wie bereits gezeigt - „mit Bismarck auf dem Kriegsfuß steht",' 64 wirft dem Neffen vor, er wolle „andeuten, daß (...) ein gewisser Halberstädter mit schwefelgelbem Kragen 65 eigentlich auch St. Privat allerpersönlichst gestürmt und um Sedan herum den großen Zirkel gezogen habe ". 66
Und was schickt Vetter Briest, der Charons Rolle beim Weg aus der 'natürlichen' Kinderwelt in den Bismarck-Hades, ja die Bismarck-Hölle 67 übernommen hatte, den Innstettens zum Heiligen Abend? Vetter Briest schickt „eine Karte: Schneelandschaft mit Telegraphenstangen, auf deren Draht geduckt ein Vögelchen saß ." 68 Ein treffliches Bild, eine Pictura, die - wie Wüllersdorfs Rede vom Luisendenkmal am Schluß des Romanes - 09 die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Unvereinbarem suggeriert: von Bismarck und seiner Welt einerseits und der 'Natur' andererseits; der Vereinbarkeit derjenigen beiden Welten mithin, die Effi so gern zusammengebracht hätte. Es ist jedoch geradezu das symbolische Ziel des Romans zu demonstrieren, daß eine solche 'Vereinigung' von 'öffentlichem' und 'Privatem', von 'Bismarckwelt' und 'Natur', nicht realisierbar ist. Um dies zu zeigen, inszeniert Fontane einen 'Zwischenfall': Er läßt einen Mann Effis Lebensweg kreuzen, der nicht Telegramme schickt, sondern Briefe schreibt; dazu noch solche, bei denen es sich verbietet, sie auf einem Schulzenamte in Bismarcks Reich öffentlich anschlagen zu lassen.
Viele der in der Forschung in diesem Zusammenhang so lange diskutierten Fragen erledigen sich aus dieser Perspektive gleichsam von selbst: warum Effi Crampas' Briefe über so viele Jahre habe lagern lassen („Böselager" heißt bekanntlich der Briefträger, der dann Effi die Nachricht überbringen wird, sie sei aus Bismarcks Reich verstoßen ); 70 warum Effi die Briefe an so unsicherem Orte plaziert habe; warum es eines lächerlichen Zufalls bedurft habe, sie zu entdecken, usw. usw.
An den Briefen festzuhalten, war für Fontane - fast möchte man sagen: gerade gegen alle 'Wahrscheinlichkeit' - zwingend: Crampas' Briefe sind Symbol einer humanen Form menschlichen Umgangs miteinander, der ein Jünger des 'mogelnden' Depeschen-Kanzlers nicht gewachsen sein konnte.
Anmerkungen
1 Erweiterte Fassung eines Vortrags beim 3. Fontane-Tag des Instituts für deutsche Literatur, Fachbereich Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin am 24.2.1992.
2 Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern. - Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Lit. 55), S. 10 ff; übernommen wird im folgenden Panofskys Terminus, nicht aber Schusters These, Effis Leben sei eines „nach christlichen Bildern".