Heft 
(1992) 54
Seite
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1. Theoretischer Zugriff

Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet ein Theorem der strukturalen Mythenanalyse von Claude Lévi-Strauss, nämlich folgendes: Es sind mythische Vermittlungsstrukturen zwischen Extremen, die die in einer Gesellschaft bedeutenden Antagonismen narrativ zum Ausgleich bringen. Es sind die Mythen, die erzählen,wie die Menschen sich vorstellen müssen, daß die Dinge sich abgespielt haben, um Widersprüche überwinden zu können". 3 Abweichend vom ethnologischen Material, das Lévi-Strauss untersucht hat, sind es in neuerer Zeit vor allem Figuren der Geschichte, die für solche Ver­mittlungen herangezogen werden. Sie mediatisieren die offensichtlichen Widersprüche in einer Gesellschaft dadurch, daß sie paradoxe Positionen ein­nehmen: im Falle Bismarcks die des 'ehrlichen Maklers'; des 'Deichgrafen, der seine eigenen Deiche durchsticht'; des 'realistischen Idealisten'. Der Bismarck- Mythos steht daher an den zentralen Nahtstellen der besonders wichtigen gesellschaftlichen Konflikte im Preußen/Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie 'Deutschtum' vs. 'Preußentum', 'Staat' vs. 'Zivilgesell­schaft', 'Familie' vs. 'Öffentlichkeit', 'Kunst' vs. 'Politik'.

Für die Literaturwissenschaft rücken damit diejenigen narrativen und diskursi­ven Verfahren der Textstrukturierung in den Mittelpunkt des Interesses, durch die solche Widersprüchlichkeitenausgelöscht oder in Frage gestellt" 4 werden. Als erstes ist der einfache Positionswechsel zu nennen. Der mythi­sche Held vollzieht dabei den Übergang von einer Position oder Ordnung zu einer anderen. Dieses Verfahren ist - erzähltechnisch betrachtet - auf der Ebene des narrativen, syntagmatischen Nacheinanders der Handlung angesiedelt. Als Beispiele wären alle diejenigen Erzählungen zu nennen, die für Bismarck einen Wandel vom eingefleischten 'Reaktionär' zum 'Reformpolitiker' oder vom 'ein­fachen Landedelmann' zum 'eisernen Kanzler' und wieder zurück zum 'Guts­herrn im Sachsenwald' thematisieren.

Interessanter ist jedoch die diskursive Vermittlung der Widersprüche, da sie eine paradigmatische, d.h. gleichzeitige Geltung der zu versöhnenden Positionen hervorbringt, was auf drei verschiedene Arten geschehen kann:

- erstens durch Verwendung solcher Symbole, deren Bildseiten sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen lassen und die zugleich mit wech­selnden Wertungen versehen sind; ich werde das für die Symbole 'Deich' vs. 'Flut' und 'Boden' vs. 'Höhe' ausführen;

- zweitens durch Verteilung von anscheinend widersprüchlichen Charak­tereigenschaften eines mythischen Helden - wie 'Herz' und 'Verstand' - auf zwei Figuren, die erst zusammen als ein diese Eigenschaften integrierendes Dioskurenpaar wirken;

- drittens durch Vereinigung divergierender Eigenschaften in einer einzi­gen Figur, die sich dann - so die treffende Bezeichnung bei Lévi-Strauss - als Trickster" 5 entpuppt.

2. Bismarck-Mythos

Ein immenses Problem für die Biographen Bismarcks war es, ihn einerseits als konservativen Junker, der jede Art von Revolution bekämpft hatte, darstellen 32