Heft 
(1992) 54
Seite
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ne-Forschung übertragen: Vielfach wurde das Verhältnis von Staats- und Wort­künstler thematisiert, immer wieder festgestellt, Bismarck selbst sei ein viel­schichtiges, höchst ambivalentes Phänomen, andererseits aber auch Fontanes Bismarckbild nicht nur in sich höchst zwiespältig, sondern zudem auch noch zeitlichem Wandel unterworfen. Daß trotz solch permanenter Anwesenheit des Forschungsgegenstandes bisher kein Versuch gemacht wurde, diesem anschei­nend faszinierenden Phänomen in theoretischer wie auch materieller Hinsicht systematisch nachzugehen, scheint mir vor allem zwei Gründe zu haben: Erstens läßt sich in einem Teil der älteren Sekundärliteratur eine gewisse Tendenz erkennen, den 'wirklichen' Charakter Bismarck dem 'wirklichen' Cha­rakter Fontane gegenüberstellen zu wollen, was beinahe mit Notwendigkeit darauf hinausläuft, Relationen der Entsprechung zwischen beiden herzustel­len: Die Persönlichkeit Bismarcks sei genauso ambivalent wie die Fontanes. Daraus werden dann wechselseitig sowohl die Faszination Bismarcks auf den als artverwandt gedachten Fontane als auch die Zweideutigkeiten und Brüche in dessen Bismarckbild erklärt. Walter Müller-Seidel hatte die Begrenztheit eines solchen Vorgehens bereits vor Augen, als er für eine sozialgeschichtlich­mentalitätsgeschichtliche Erweiterung des Blickwinkels über die historischen Figuren Bismarck und Fontane hinaus auf diein der Epoche angelegten Widersprüche " 45 plädierte.

Ein zweiter Grund liegt darin, daß das komplexe und vieldeutige Zeichen 'Bismarck' (von dem ich in der Gesamtheit seiner Strukturen als 'Bismarck- Mythos' spreche) nur selten als ein in der elementaren Sozialkultur fest veran­kerter Gegenstand mit eigener Materialität, d.h. eigenen Strukturen und Funk­tionen, verstanden wird; vergleichbar den aus einem Schillerschen Gedicht oder Drama herausgelösten, ins Konversationswissen eingegangenen und in tausenderlei Situationen des Alltags wiederverwendeten Sentenzen. Viele der Fontaneschen Bismarck-Äußerungen in den Briefen, Gedichten und Berliner Gesellschaftsromanen aber - so meine These - lassen sich eher auf die Folie des zwischen Realgeschichte und ihrer literarischen Verarbeitung zu denkenden 'Bismarck-Mythos' beziehen als auf den 'realen' Staatsmann. Denn so, wie Fon­tane die Zitate und Sentenzen der Kunstliteratur nutzt, genau so verwendet er auch das Netz historischer Figuren, nämlich um Ambivalenzen, mehrfache Lesarten und Brüche realisieren zu können. Darauf hat Wulf Wülfing in einer materialreichen Studie hingewiesen . 46 Nutzen kann Fontane dieses semiotische Netz aber nur, weil es als kulturelle Materialität verbreitet ist und als stets bereits vor-gedachter, vor-geschriebener Verständigungsort, als Umschlagplatz kulturellen Wissens zur Verfügung steht . 47

Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint ein Gedicht wie Jung-Bismarck 48 dann als typisch in doppelter Weise: Erstens ist die Jung-Siegfried-Applikation kanonischer Bestandteil des Bismarck-Mythos; zweitens ist sie aber auch genauso typisch für Fontanes, am Vorrat kultureller Anschauungsformen parti­zipierendes Schreibverfahren . 49 Und selbst eine so marginale Äußerung wie die über Warnemünde aus Unterwegs und wieder daheim, nämlichder Weg am Strand hin heißt der Bismarck-Damm. Er wird wohl halten" 50 , bekommt erst vor dem Hintergrund des Wissens um die Bedeutung solcher Deich-Sym­bolik den nötigen Kontext. 42