Heft 
(1992) 54
Seite
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Weiter läßt sich auch das zu Bismarcks Tod Ende Juli 1898 verfaßte Gedicht Wo Bismarck liegen soll als eine Weiterverarbeitung der 'Boden/Höhe'-Symbolik des Bismarck-Mythos lesen und zugleich als Fontanes Antwort auf die Frage nach der für ihn zu diesem Zeitpunkt gültigen Dominanz von 'Staat' oder 'Zivilge­sellschaft' - man könnte auch sagen von 'Küraß' oder 'Schlapphut'. Fontane entschied sich im übrigen für letzteren, denn

Nicht in Dom oder Fürstengruft,

Er ruh in Gottes freier Luft

Draußen auf Berg und Halde,

Noch besser tief, tief im Walde (...). 51

Dieses Beispiel macht zugleich deutlich, daß eine strukturfunktionale Betrach­tungsweise, wie sie hier unternommen wird, den Blick auf je individuelle, autorspezifische Akzentsetzungen keinesfalls aus dem Blick verlieren darf. 52 Denn es muß nicht bloß um das 'Einpassen' literarischer Texte in eine vorgege­benen Form gehen, sondern zugleich immer auch um die Beschreibung je indi­vidueller ästhetischer Innovationen, die die kulturell parat gehaltene Folie wei­terverarbeiten oder sogar durchbrechen. 53

Fontanes spezifische Formen der Weiterverarbeitungen des Bismarck-Mythos sind in vielfacher Hinsicht noch herauszuarbeiten, was ich Ihnen, meine Damen und Herren, als Fontane-Spezialistinnen und Spezialisten überlassen muß. Ich mußte mich heute darauf beschränken, die dazu vielleicht hilfreiche Karte des Bismarck-Mythos selbst ein wenig auszubreiten.

DieFontane-Blätter" haben es sich seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht, mit solchen historischen Sentenzen zu eröffnen, die zugleich auch aktuell-poli­tisch gelesen werden können. Ich möchte auf ähnliche Weise schließen und fra­gen, ob nicht auch der Prozeß der Wiedervereinigung als eine Bismarcksche Kulturrevolution 54 verstanden werden kann. Galt es nicht auch dabei, alte Ord­nungen und überkommene Deiche (z.B. die Berliner Mauer) zu sprengen, die wildgewordenen Elemente (z.B. in der Silvesternacht 1990 auf dem Branden­burger Tor) wieder einzufangen und in eine neue Ordnung zu überführen? Hieß es nicht in der WochenzeitungDie Zeit" noch vor einem Monat:Es ist absurd. Kaum sind die alten Ketten gesprengt, werden in Eile neue geschmie­det?"55 Noch weiter gesponnen, wäre der neudeutsche Bismarck dann wohl kein anderer als Bundeskanzler Helmut Kohl. Karikaturisten und Journalisten haben dies längst erkannt, den 'Bonner' auf den Sockel des 'Eisernen Kanzlers' gestellt, 56 und nach historischen Analogien 57 gefragt. In seinem Streben nach Ausgleich der Verhältnisse würde der Mythos jetzt natürlich Proporz fordern, was für die Politik Parteienproporz hieße. Die Deichhauptmannsstellen zu Björn Engholm 58 wären aber ein eigenes Thema.

Anmerkungen

1 Vortrag beim 3. Fontane-Tag des Fachbereichs Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin am 24.2.1992. In die vorliegende Fassung wurden die anregenden Beiträge der abschließenden Diskussion dankbar aufgenommen. 43