Heft 
(1992) 54
Seite
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diese betont kritische Einstellung gegenüber dem Adelsstand und seinem Stan­desbewußtsein, findet sich in den Chroniknovellen Fontanes nicht.

Auch in Fontanes erstem großem Roman Vor dem Sturm (1878) repräsentieren wie in den Wanderungen die Hauptpersonen - die adeligen Gutsherrn, die Generäle und Geheimräte - durchgehend positives Preußentum; Zeitkritik wird nur am Rande sichtbar.

Erst von den 80er Jahren an kommt es zu einer Annäherung ihrer gesellschafts­politischen Standpunkte und Intentionen. Die Novelle Schach von Wuthenow (1882) bringt durch den Mund desNeuerers", des ehemaligen Stabskapitäns von Bülow, dem Fontane allerdings nicht das letzte Wort läßt, und durch die Gegenfigur des Schach von Wuthenow zum erstenmal scharfe Kritik am preußischen Staat und an demKultus der falschen Ehre" der preußischen Gesellschaft zum Ausdruck. 28

In diesen Jahren wandelt sich auch Fontanes Verhältnis zum Adelsstand. Vor­bei ist es mit der Verklärung, wie wir sie aus den Wanderungen kennen. In den Briefen an Georg Friedländer gibt es genug Briefstellen, die von dem frühen Storm stammen könnten, z.B. folgende vom 14.5.1894:

Die Adelsfrage! Wir sind in allem einig; es gibt entzückende Einzelexemplare, die sich... zu was schön Menschlichem durchgearbeitet haben, aber die 'Junker', unser eigentlichster Adelstyp, ist ungenießbar geworden.

Oder am 1.2.1894:

Die Welt hat vom alten Adel gar nichts, es giebt Weniges, was so aussterbereif wäre wie die Geburtsartistokratie".

Solche Worte sind nicht weit entfernt von Storms Einstellung, der 1864 den Adeldas Gift in den Adern der Nation" genannt hatte (s.o.).

Gleichzeitig mit dem geschärften Blick für die Schwächen des Adelsstandes verschärft sich Fontanes Kritik an der Berliner Gesellschaft, d.h. an den Gesell­schaftszuständen nach der Reichsgründung.

Storm hatte schon Ende der 70er Jahre - aus seiner distanzierten Haltung gegenüber dem preußischen Staat und gegenüber der Reichsgründung - ver­mehrt Entartungserscheinungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ausge­macht. In einzelnen Szenen der Novellen Carsten Curator (1877) und Zur Wald- und Wasserfreude (1878) z.B. hatte er auf die menschlich negativen Seiten wirt­schaftlichen Spekulantentums hingewiesen, und in der Novelle Im Nachbarhau­se links deutlich gemacht, daß ein nur auf Äußerlichkeiten - auf Geld und äuße­re Schönheit - angelegtes Leben keinen Sinn hat.

In den 80er Jahren verschärfte Storm seine Kritik. In der Novelle Hans und Heinz Kirch zeigt er, wohin übertriebenes Streben nach immer mehr Wohlstand und bürgerlichen Ehren führt, zu seelischer Härte, zu Mitleidslosigkeit, zu einem Leben ohne Liebe und Nächstenliebe. Eine besonders scharfe Anklage enthält die Novelle Ein Doppelgänger (1887), in der Storm am Schicksal eines Zuchthäuslers deutlich macht, wie mitleidslos das Bürgertum seiner Zeit, der Gründerzeit also, oder - wie es in der Novelle heißt -die liebe Mitwelt" den Deklassiertenzu Tode... hetzt." (LL III, S. 174) 58