Storms letzte Novelle schließlich, Der Schimmelreiter (1888), kritisiert in dem Deichgrafen den „gründerzeitlichen Übermenschen". 29 Hauke Haien ist als „Gründer" gezeichnet, als der große Einzelne, der ein Jahrhundertbauwerk errichtet, genial zwar und die anderen „um Kopfeslänge" überragend, aber auch ein ehrgeiziger Machtmensch, ein Werkbesessener, ein Fanatiker, an dem die Gefahren der Gründerzeit deutlich werden.
Fontane hat, besonders in seinen großen Romanen nach Storms Tod (1888), ein weit umfassenderes und vollständigeres Bild der Gesellschaft seiner Zeit gezeichnet als Storm, aber hinsichtlich der Kritik an dieser Gesellschaft finden wir in diesen Romanen Grundlinien der Stormschen Kritik wieder. Überall, z.B. in Irrungen und Wirrungen (1887/88) und in Stine (1890), ist es, um mit Fontane selbst zu sprechen, (Brief an den Sohn, 8.9.1887) die „konventionelle Lüge", die „Heuchelei", das „falsche Spiel” der Berliner Gesellschaft, das kritisiert wird; es ist das „Berliner Wesen", um ein Wort Storms in seinem Brief vom 27. März 1853 zu gebrauchen, „daß (man) in gebildeten Kreisen den Schwerpunkt nicht in die Persönlichkeit, „sondern in Rang, Titel, Orden und dergleichen Nipps legt."
Ganz deutlich nennt Innstetten in Effi Briest (1895) den Zielpunkt, auf den Fontanes Kritik hinausläuft, wenn er von dem „uns tyrannisierenden Gesellschaftsetwas" spricht. Der Gesellschaft, die in Innstetten kritisiert wird, fehlt, um Storms Worte aus dem genannten Brief wiederaufzunehmen, „die goldne Rücksichtslosigkeit, die allein den Menschen innerlich frei macht."
Sicherlich: Das Panorama der gründerzeitlichen Gesellschaft und die übertriebene Wertschätzung von Wohlstand und bürgerlicher Ehre in dieser Gesellschaft werden in Frau Jenny Treibei (1892/93) und Hans und Heinz Kirch (1881/82) auf verschiedene Weise gezeichnet, aber der „Zweck der Geschichte" (so Fontane an seinen Sohn, 9.5.1888) ist bei beiden letztlich, „das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes zu zeigen.”
Zusammenfassend kann man also sagen, daß die politischen Dissonanzen zwischen Fontane und Storm - sowohl was die Beurteilung des Adels und des »preußischen Wesens" als auch der gründerzeitlichen Gesellschaft angeht - gegen Ende ihres Lebens abgeklungen sind. Offenbar hat Fontane das gespürt, als er viel später, zwei Monate vor seinem Tode, Friedrich Paulsen am 13.7.1898 eine Korrektur seiner Storm-Kritik in dem betreffenden Kapitel in Zwischen Zwanzig und Dreißig andeutete: „Als ich den Storm-Aufsatz schrieb... dachte ich über Umgang, Verkehr, Heiratherei, ganz anders..., aber erst in meinen ganz alten Tagen bin ich... zu... traurigen Überzeugungen gekommen: man muß jeden Versuch, s ich unsern Adel... durch Freimuth erobern zu wollen, aufgeben."
Auch die Schlußpassage des Storm-Aufsatzes selbst deutet in diese Richtung, w enn es da heißt:
„Man empfing von ihm (von Storm, bei ihrer letzten Begegnung in Berlin) einen reinen, schönen Poeteneindruck. In allem Guten war er der alte geblieben, und was von kleinen Schwächen ihm angehangen, das war abgefallen."
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