allem der Vergangenheit aus der Erinnerung heraufzurufen; die Verknüpfung solcher subjektiver Elemente zu einem Erzählganzen gelang ihm aber nur im Ansatz durch die gemeinsame Klammer der Resignation. Die kalkulierte Verwendung einer Erinnerungsperspektive, durch die der Erzähler Distanz zum dargestellten Geschehen gewinnt, gehört einer späteren Schaffenszeit an.
Mit der nach der Übersiedlung nach Heiligenstadt Anfang 1858 fertiggestellten Novelle Auf dem Staatshof gelang Storm der erzählerische Durchbruch; zum ersten Mal erfindet er einen Ich-Erzähler, der selbst in das fiktive Geschehen eingebunden wird und sich später in einem Prozeß der Erinnerung dessen zu vergewissern versucht, was zuvor geschehen ist. Damit hatte Storm eine Erzählhaltung gefunden, die er in seinen späteren Novellen immer neu variieren und zu künstlerischer Vollkommenheit weiterentwickeln konnte. Zugleich aber hatte er einen Stoff gefunden, mit welchem er nicht mehr bloße Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend in der Heimat skizzenhaft darstellen, sondern die Lebensgeschicke seiner Helden mit historischen Ereignissen zu einem neuen Ganzen verknüpfen konnte. Die Details der nordfriesischen Geographie dienen dazu, eine realistische Kulisse zu entwerfen, vor der die menschlichen Probleme in einer Handlung von ganz neuem, starkem objektivem Gehalt entfaltet werden. Damit konnte Storm erstmals das zentrale Problem realistischen Schreibens lösen, nämlich „das Problem der Vermittlung zwischen dem Bedürfnis nach poetischer Gestaltung der Welt im literarischen Kunstwerk und der Verpflichtung zur Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit." 38
Die Zeit in Potsdam ist daher eine Übergangszeit; sie ist aber auch zu einer Lehrzeit für Storm geworden, die er tatkräftig genutzt hat, um sich auf seine spätere schriftstellerische Arbeit vorzubereiten. Auf diesem Weg haben ihn die Berliner Freunde begleitet und gefördert; ihre Kritik war es, die es Storm ermöglichte, die bisherigen Mängel zu überwinden. Ihr Lob hat ihn darin bestärkt, dasjenige Element in seinen Erzählungen zu bewahren, das ihn bekannt gemacht hatte, die Fähigkeit nämlich zur poetischen Schildung von bedeutsamen Situationen in einer Sprache, die bis heute einen großen Leserkreis zu fesseln vermag. Wäre Storm hier stehen geblieben, so könnte seine Erzählkunst neben seiner Lyrik nicht bestehen; da er aber in zunehmendem Maße als aufmerksamer Beobachter und unabhängiger Kritiker seiner Zeit die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in ihrer geschichtlichen Bedingtheit verfolgte und in der unmittelbaren Erfahrung seiner kulturellen und sozialen Lebenswirklichkeit Stoffe fand, die ihm als Themen für seine Novellen geeignet erschienen, konnte er bedeutsame Momente des wirklichen Lebens seiner Zeit in freilich manchmal verklärter Weise darstellen. So vorbereitet, hat Theodor Storm in den nächsten dreißig Jahren fast vierzig Novellen geschrieben, von denen viele jene unverwechselbare Mischung von bisweilen hartem Realismus und verklärender Poesie aufweisen, die ihm sein Lesepubli' kum bis heute honoriert.
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