Diese Aufzählung von Fehlern soll nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, Fontane habe alles falsch wiedergegeben. Viele seiner Angaben sind richtig. Die angeführten Beispiele lassen jedoch vermuten, daß Fontane 'vor Ort' wenig oder gar nichts notierte und das meiste aus dem Gedächtnis wiedergab, daß er also nicht allzuviel Wert auf die Genauigkeit seiner Angaben legte. Der ganze Artikel betont auch weniger die Sehenswürdigkeiten Chesters oder historische Fakten der Stadtgeschichte, sondern vielmehr die geschichtlich-romantische Rolle der Stadt in der Zeit von King Charles I. 41 und die poetische Atmosphäre des Mauerspaziergangs. 42
Es finden sich auch in vielen anderen Artikeln Belege dafür, daß Fontane bei seiner journalistisch-essayistischen Arbeit mehr Wert auf Stil und Atmospäre legte als auf inhaltliche Genauigkeit. So beispielsweise in einem Kapitel von Ein Sommer in London, übertitelt Ruderer und Steuermann. Die poetische Schil- dung eines Hauses ('Haus des Todes') steht im Mittelpunkt. 43 Das Haus soll laut Fontane Oliver Cromwell gehört haben. Tatsächlich aber „... ist die Assoziation mit Cromwell historisch nicht belegt, vielmehr wird angenommen, daß eine Verbindung zu Lord Thomas Cromwell (1485?-1540) bestand..." 44 Im Volk sei dann später eine Verwechslung der Persönlichkeiten eingetreten.
Wie Fontane von der angeblichen Verbindung zwischen dem Haus und Oliver Cromwell erfahren hat, ist wohl heute nicht mehr genau feststellbar. Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, daß er ein weiteres Mal der 'Sage' geglaubt und nicht nachgeprüft hat, ob es sich dabei um ein historisches Faktum handelt. Auch für die Zeit nach den Englandaufenthalten läßt sich die Entscheidung Fontanes gegen trockene Faktizität dokumentieren, z.B. anhand der Rede zum Shakespeare-Fest, die er am 23. April 1864 in der Literaturenvereinigung „Der Tunnel über der Spree" gehalten und erst kurz zuvor verfaßt hat. 45 Der Autor beschreibt darin seinen Besuch in Stratford-upon-Avon, der Geburtsstadt Shakespares, und die Besichtigung des Zimmers, in dem der englische Nationaldichter geboren worden sein soll. „Wenn etwas an diesem Zimmer imponiert, so ist es seine äußerste Schlichtheit. Freilich ein andres noch, - die unverkennbare Wahrnehmung, daß wir uns hier an einer Pilgerstätte der ganzen gebildeten Welt befinden.46 Der Zweifel, ob Shakespeare tatsächlich dort geboren worden sei, spiele, so erläutert Fontane, bei der Bedeutung des Zimmers als „Wallfahrtsort" keine Rolle: „Der Glaube der Jahrhunderte ist das Bestimmende und siegreich selbst über das Faktum, wenn dieses bloß nachhinkt auf Krücken der Kritik und der Forschung. "
Poet, nicht Journalist
Ein Aufsatz Fontanes, zuerst in der Leipziger „Chronik der gebildeten Welt" veröffentlicht und in seinem Wesensgehalt eine Kurzfassung des Schottland- Buches Jenseit des Tweed, 47 liefert vielleicht die eindeutigsten Belege dafür, daß für den Autor poetische Aspekte Vorrang vor allem anderen hatten.
Er schreibt darin von den letzten Stuart-Aufständen, die durch „... Walter Scotts Waverly’-Roman so allgemeines Eigentum der gebildeten Welt geworden..." seien. 48
... der Clangeist wurde gebrochen. Wüst, wild, roh hatte er begonnen, seine
Sterbestunde aber sah ihn im Dienst einer Idee und opferfreudig einstehen für 81