Der Stechlin als Sprachkunstwerk liegt als Ganzes vor und kann als Lesemodell 27 Stechlin rezipiert und verstanden werden. Aufbauend darauf wäre ein Lesemodell etwa „Stechlin im Gesamtwerk" denkbar, wenn nicht gar obligatorisch. Aber erst ein Lesemodell, das sich mit der Bildlichkeit im Stechlin und ihrer Anlage im Gesamtwerk - mit verschiedenen Varianten und Modifizierungen - beschäftigt, vermag dem Leser den Eindruck eines Panoramas, im Sinne eines „pan hórama", eines Überblicks oder eines Dioramas im Sinne durchscheinender Transparenz zu vermitteln. Er kann dann, um in dieser Sprache zu bleiben, durch geringe Wechsel der Position das gesamte „Bild" einse- hen, kann den Flüssen in ihren Windungen durch vorher versteckte Gebirgstäler folgen, die dem neben ihm Stehenden nicht einsichtig sind. 28 Auch das, was sich den Blicken zunächst entzieht, ist vorhanden; die Assoziation mit dem „Zusammenhang der Dinge" taucht auf.
Dieses erste Beispiel des „Poetensteiges" könnte, wollte man bei den Bezeichnungen bleiben, in die Kategorie „Selbstzitat", wie es anfangs erläutert wurde, aufgenommen werden. „Poetensteig" als Chiffre stellt eine noch recht gut überschaubare und relativ unkomplizierte Gestaltungsmöglichkeit dar. Im nächsten Fall wird es darum zu tun sein, einen größeren Textzusammenhang im Hinblick auf sein Vorhandensein und seine Veränderungen im Werk zu untersuchen. Es handelt sich um die Passage, da Dubslav auf seinem Lieblingsplatz, jener Steinbank oberhalb des Stechlin (240f.), sein Leben an sich vorüberziehen läßt. Zusätzlich werden „Freiherr von Canitz" aus Spreeland' 29 und Stine herangezogen. Dadurch wird jene „Szene" so intensiviert und verdichtet, daß ein vollständiges Entschlüsseln und Interpretieren kaum intendiert sein kann.
„Der Kahn des Traumes"
Canitz, der Poet (...) An dem Birkenwäldchen vorbei, den erhöhten Kiesweg entlang, der bald die Windungen des Baches begleitet, bald sie kreuzt und überbrückt, hat er endlich die hoch gelegene Lieblingsbank am Rande des Parks erreicht, die, von Buchenzweigen weit überschattet, nach vorn hin einen Blick gönnt auf Felder und wogendes Korn. Er läßt sich nieder hier, und Figuren in den Sand zeichnend, ziehen die wechselnden Bilder seines Lebens an ihm vorbei. 30
Seine Meditation und
die heiteren Reisegötter führen ihn in die Lagunenstadt just am Tage der Meervermählung. (...) Die Bilder Venedigs schwinden, aber der Kahn des Traumes führt ihn weiter, (...). vereinzelte Kuckucksrufe klingen jetzt leis und wie aus weiter Ferne herüber, und siehe da, der kranke Poet unterbricht sich in seinem Figurenzeichnen und horcht auf. 31
Canitz versinkt dann wieder in Traum und Vergangenheit, jedoch der Kuckuck, so scheints, fordert sein Recht:
Das einförmige Rufen des Kuckucks klang lauter und näher jetzt, und Canitz richtete sich auf, als woll er die Rufe zählen. Da schwieg der Kuckuck. Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippe; 32
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