allem die „schwer zu entziffernde Schlußszene" 4 Schwierigkeiten, in der der betrunkene Wilibald Schmidt (als Sprachrohr des Erzählers oder gar des Autors?) seine bislang gültigen Standpunkte mit einem „alles ist Unsinn" 5 zurückzunehmen scheint. Wenn es Fontane auf die Entlarvung und Relativierung sowohl des Besitz- als auch des Bildungsbürgertums ankommt, welchen Sinn macht dann ein identifikationsheischender Schluß: „Alles war voller Jubel" (212)? Und umgekehrt: Wenn Fontane eine „ Versöhnung" von Besitz und Bildung im Auge hat 6 , warum skeptisiert er dann diese Position? Als vorsichtiger Interpret macht man es, wie man es Fontane unterstellt: man legt sich nicht fest und läßt den Schluß offen; eine ungreifbare Ironie überzieht dann sowohl die beißende Kritik an der Besitzbürgerideologie als auch die Sympathie mit den armen, aber gebildeten Idealisten.
An dem kleinen Gedicht „Wo sich Herz zum Herzen find't", das immerhin die zweite Hälfte des Titels ausmacht, soll gezeigt werden, daß am Schluß des Romans eine andere Deutung abgelesen werden kann, wenn man dem Lied in seiner leitmotivischen Funktion präzise nachgeht. Fontane war es schließlich für die Sinndeutung seines Romans so wichtig, daß er die Verszeile gegen die Einsprüche seiner Familie und des Verlegers als Untertitel beibehalten hatte 7 . Der Dichter des poetischen Produkts, Wilibald Schmidt, hat mit seiner Reimerei aus Studententagen anscheinend wenig mehr im Sinn, während Jenny Treibei sich lebenslänglich daran festklammert. Sie reklamiert es nicht nur als Jugenderinnerung für sich, sie hat es auch im wörtlichen Sinn für sich vereinnahmt und ihrem großbürgerlichen Lebensstil repräsentativ anverwandelt: „das kleine Buch, das ursprünglich einen blauen Deckel hatte (jetzt aber hab ich es in grünen Maroquin binden lassen)" (7). Entscheidender als ihre materielle Besitznahme des Lyrischen ist jedoch ihre Behauptung, durch „das Poetische" eine eigenständige Bildungsgeschichte absolviert zu haben (8). In einem Konglomerat aus verlogener Rührung, sentimentaler Religiosität und erinnerungsseliger Verdrängung der wahren Tatbestände erhebt sie „das Poetische" auf einen Standpunkt weit über den „prosaischen Menschen" und überhöht ihren unerhörten sozialen Aufstieg zum unbegründbaren Schicksal:
Aber, Gott sei Dank, ich habe mich an Gedichten herangebildet, und wenn man viele davon auswendig weiß, so weiß man doch manches. Und daß es so ist, das verdanke ich nächst Gott, der es in meine Seele pflanzte, deinem Vater. Der hat das Blümlein großgezogen, das sonst drüben in dem Ladengeschäft unter all den prosaischen Menschen - und du glaubst gar nicht, wie prosaische Menschen es gibt - verkümmert wäre... (8)
Die Redeweise der Gedichtlektüre („Blümlein") wird übernommen zur Bestimmung eines Seelenzustandes, der sich als leeres Reproduzieren („auswendig") dessen verrät, was an sich unbrauchbar ist („so weiß man doch manches"), und zugleich als Verstellungsideologie dazu dient, ganz handfeste materielle Interessen zu übertünchen. Wilibald Schmidt bezeichnet deshalb die Kommerzien- rätin mit einem Spielen um das „Sentimentale” und „Ideale” als „ Musterstück von einer Bourgeoise" (13). Sehr viel härter urteilt Fontane selbst, wenn er den Lügenmechanismus Jennys festmacht an der
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