Heft 
(1992) 54
Seite
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Schlußzeile eines sentimentalen Lieblingsliedes, das die 50jährige Kommerzien- rätin im engeren Zirkel beständig singt und sich dadurch Anspruch auf das Höhere" erwirbt, während ihr in Wahrheit nur das Kommerzienrätliche, will sagen das Geld, dasHöhere" bedeutet. Zweck der Geschichte: das Hohle, Phra­senhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunkts zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint 8 .

Welche Rolle die Poesie in diesen Gesellschaftskreisen spielt, zeigt ein Gespräch über die Lyrik Georg Herweghs. Ausgerechnet die Karikatur eines Literaturkenners, der alte Reaktionär Leutnant Vogelsang, führt den Dichter Herwegh alsden großen Hauptsünder" fürjene verlogene Zeit" (28) - gemeint ist der Vormärz - ein. An seiner Geringschätzung für Herweghs politische Lyrik läßt der Leutnant keinen Zweifel 9 . Da bekennt sich Jenny Treibei zu Herwegh als ihremLieblingsdichter". Sie entblößt sich damit aneiner sehr empfindlichen Stelle" ihres Seelenhaushalts, denn sie tut kund, daß die Gedichte Herweghs sie nicht etwa als Poesie so entzückten, sondern weil sie von den Eltern ganz unmittelbar als Erziehungsmittel im Dienst des Staats und zum Zweck sozialer Konditionierung eingesetzt worden waren 10 .Das Niedere", gegen das Jenny Herwegh reklamiert, meint eindeutig Soziales; Dichtung soll sozialstabilisie­rende und klassensichernde Funktion haben. Für Jenny ist es trotzdem kein Widerspruch, Herwegh als unpolitischen Dichter zu lesen,da das Politische nur ein Tropfen fremden Blutes in seinen Adern war. Indessen groß ist er, wo er nur Dich­ter war." (29) Dichtung scheint, von ihren Inhalten entkleidet, als blutleere Stimmungshaftigkeit gelesen werden zu können. Zum Beweis dessen zitiert die Kommerzienrätin zwei Verse aus HerweghsStrophen aus der Fremde", die diese pathetische und zugleich sentimentale Leerheit der Empfindung ohne Wirklichkeitsbezug illustrieren sollen. Vogelsang ergänzt im Versfluß der Reim­verbindung dieletzten Gluten" mitverbluten" und versteht damit Jennys Zitat im Sinn seiner prosaisch-militärischen Wirklichkeitssicht. Er beurteilt Her­weghs Gedicht am tatsächlichen Verhalten des Dichters; dergestalt wörtlich genommen, verpufft der hohe Anspruch sowohl der Verse als auch des Verfas­sers:Aber wer sich, als es galt, durchaus nicht verbluten wollte, das war der Herr Dichter selbst." (29) Vogelsangs Urteil steht fest; Dichtung besteht aushohlen, leeren Worten" undReimsucherei", und sie verfichtüberwundene Standpunkte"; zuletzt läßt noch aus seinem Munde eine reaktionäre Rezeption Hegels grüßen: Der Prosa gehört die Welt." (29)

Ein Blick auf das genannte Gedicht Herweghs zeigt indes, daß beide (bewußt?) unvollständig zitiert haben. Beide benutzen die Verse als Argumentationsmu­nition für ihre jeweils eigene Poesievorstellung und schneiden aus dem Gedicht heraus, was nicht dazu paßt. So hat Jenny Treibei den in doppeltem Sinn verräterischen VersMich in den Schoß des Ewigen verbluten" unter­schlagen 11 , der sich ja nicht nur im platten Sinne Vogelsangs auf die kriegeri­schen Aktivitäten der 1848/49-Revolution beziehen läßt, sondern durchaus als gewagte erotische Metapher zu lesen ist, deren Anstößigkeit Jenny aus ihrem Bewußtsein verdrängt hat. Der dritte Vers der Strophe Herweghs, den weder Jenny noch Vogelsang erinnern (wollen), macht offenbar, daß Herweghs Gedicht keinesweg nur leere Abendrot-Stimmung produziert:O leichter, sanf-

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