Heft 
(1992) 54
Seite
105
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Das arme Menschenherz muß stückweis brechen." 15 , so findet Schmidt im sel­ben Bildbereich eine Lösung im ganz entgegengesetzten Sinn:Wo sich Herz zum Herzen find't" (51). Das lyrische Ich setzt sich identisch mit dem Autor, die romantischen Versatzstücke umschreiben eine ideal gesehene Liebesbeziehung. Diese erste Lesart findet ihre um eine Generation verschobene Entsprechung in der Verlobungsszene zwischen Schmidts Tochter Corinna und Jennys Sohn Leopold. Dort ist es eine Strophe aus Lenaus Gedicht Mondlicht, welche unter den StichwortenHerz" undAbendwind" in derselben Funktion eingesetzt ist (143). Auch dort wird das Gedicht als reine Erlebnislyrik rezipiert, das eine einmalige Situation in poetischer Form aufbewahrt, zugleich aber auch den Umkehrschluß erlaubt, daß jede Wiederholung eines solchen Gedichts das zugrunde liegende Erlebnis erneut wachrufen kann.

Die zweite Lesart des Gedichts ist diejenige, die Jenny Treibei dem Lied durch ihrenwohlbekannten" (51) Vortrag gibt. Indem sie sich selbst an die Stelle des lyrischen Ichs setzt, wird die Aussage des Gedichts, den materiellen Dingen (Gold") 16 zugunsten eines schlichten Glücks entsagen zu wollen, auf den Kopf gestellt. Das Gedicht wird aus seinem (ursprünglich immer mitzudenkenden) Erlebniszusammenhang ausgeschnitten, frei verfügbar und mit inhaltsleeren oder verlogenenSentimentalitäten" (87) aufladbar 17 . Hatte Schmidt beim Ver­fassen des Gedichts ausdrücklich auf seiner Urheberschaft bestanden 18 und damit unausgesprochen verlangt, sein biographisches Ich ins Gedicht mitzu­nehmen, so hatte Jenny dies heftigst bekämpft, Schmidts individuelle Inspira­tion bestritten 19 und schon damals den Autor von seinem Produkt zu trennen versucht. Diese Methode, den Klangkörper des Gedichts von seinen Bedeutun­gen zu reinigen, entspricht ihrem Umgang mit den Gedichten Herweghs, die sie ja auch auf die inhaltsleere Sentimentalität der poetischen Form reduziert hatte.

Eine dritte Lesart des Gedichts ergibt sich aus der gegenwärtigen Perspektive Schmidts. Er sieht sein damaliges Gedicht mit ironischer Reserve 20 . Schmidt kann mittlerweile zwischen seinem damaligen lyrischen Ich als ehemaliger Dichter und der realbiographischen Situation seiner damaligen Verliebtheit unterscheiden. Damit hat er sich nicht nur aus seiner emotionalen Verstrickung gelöst 21 ; er kann auch seine Gefühlsseligkeit von damals jetzt gleichsam literar- kritisch als poetische Mache ansehen:beiläufig eine himmlische Trivialität und ganz wie geschaffen für Jenny Treibeilg " (87 )2 2. Er akzeptiert zwar die Enteignun seines Produktes 23 , gibt seinem Gedicht nachträglich aber einen neuen Sinn. Indem er sich für sich selbst wieder als lyrisches Ich einsetzt, kann er seine jet­zigen beschränkten Verhältnisse als freie Entscheidung von damals gegen das Besitzbürgertum Jennys ausspielen (Was soll Gold"); indem er die ursprüngli­che Liebesthematik auf die allgemeine Lebensführung überträgt (nur das ist Leben"), kann er den letzten Vers,drin sich, wie du weißt 'die Herzen finden"', auf die heutige Nähe der beiden Familien umdeuten und die Hoffnung auf eine Verbindung von Besitz und Bildung formulieren:in dem Liede lebt unsre Freundschaft fort bis diesen Tag, als sei nichts vorgefallen. Und am Ende, warum auch nicht?" (87). So rettet Schmidt für sich seine Form des Ausgleichs gegen die falsche Vereinnahmung durch Jenny. 105