Heft 
(1992) 54
Seite
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Eine letzte Lesart ergibt sich schließlich für den Schluß des Romans. Dort ist es, was man zu wenig beachtet hat, Adolar Krola, der das Lied auf Bitten Schmidts vorträgt. Der Vorschlag Schmidts, daß Kroladas Herzenslied" Jennysin gewis­sem Sinne profanieren" solle, zielt darauf ab, imSchaustellen eines Heiligsten" (211) die verstiegenen Sentimentalitäten zu tilgen. Indem der Sänger Krola auf Geheiß des Dichters in die Rolle des lyrischen Ich schlüpft, erhält das Lied einen neuen Sinn. Die falsche Sakralisierung Jennys wird zugunsten einfacher, spontaner (Der Augenblick ist da") Herzlichkeit umfunktioniert, alle Spuren, die auf Realitätsbezüge hinterJennys Lied" deuten könnten, sind nun unwi­dersprochen gelöscht, denn Jenny ist längst nicht mehr anwesend. Sogar die Berufung auf den gattungsgeschichtlichen Stammvater der Erlebnislyrik wird zurückgenommen 24 .

3. Schliemann oder Krola?

In der Übertragung des ehemaligen Liebesgedichts auf die brüderliche Freund­schaft mit Krola steckt noch weiteres Deutungspotential. Denn aus der Per­spektive des Gedichts läßt sich die schwer zu entziffernde Schlußszene nicht bloß als Relativierung aller Positionen des Romans lesen, noch dazu aus dem Munde des stark alkoholisierten Schmidt und dessen universaler Negierung alles ist Unsinn" (212) 25 . Deutet die im Hintergrund der Romangespräche auf­scheinende Figur Heinrich Schliemanns eine denkbare Synthese von Besitz und Bildung an 26 , so stellt die Figur Krolas auf einer anderen Ebene einen spiegel­bildlich dazu angelegten Versuch dar. In Krola kommen zwar nicht Besitz und Bildung, jedoch Besitz und Kunst zusammen. AlsTenor und Millionär" sitzt der Hausfreund Krola in doppeltem Sinnzwischen zwei Stühlen (29), obwohl der Erzähler voll des Lobes für ihn ist 27 und Krola alsliebenswürdiger Mann" (24) in allen Gesellschaftskreisen zu gefallen weiß. Seine Stellung alsSänger und Bruder" Schmidts (211) ist Signal. Denn Krolas Rolle bei den Kunstdarbie­tungen in den Salons war schon immer derjenigen ähnlich, die Wilibald Schmidt für sich selbst im Kreis derSieben Waisen" reklamiert hatte,den denk­bar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie" (61). Der Erzähler hatte Krola als ehemaligen Künstler charakterisiert, der die Prinzipien seiner Kunst nicht ver­raten, sondern sogar noch gesteigert hat, gerade weil dergleichen in den Krei­sen des Besitzbürgertums nicht vorkommt:

Aus seinem ganzen Wesen sprach eine Mischung aus Wohlwollen und Ironie. Die Tage seiner eignen Berühmtheit lagen weit zurück, aber je weiter sie zurücklagen, desto höher waren seine Kunstansprüche geworden, so daß es ihm, bei dem totalen Unerfülltbleiben derselben, vollkommen gleichgültig erschien, was zum Vortrage kam und wer das Wagnis wagte. Von Genuß konnte keine Rede für ihn sein, nur von Amüsement, und weil er einen angeborenen Sinn für das Heitere hatte, durfte man sagen, sein Vergnügen stand jedesmal dann auf der Höhe, wenn seine Freundin Jenny Treibei, wie sie das liebte, durch Vortrag einiger Lieder den Schluß der musikalischen Soiree machte. (49)

In dieserMischung aus Wohlwollen und Ironie", die dem Wissen um die Uner­füllbarkeit der Kunstansprüche erwachsen ist, nimmt Krola beim Liedvortrag

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