Eine letzte Lesart ergibt sich schließlich für den Schluß des Romans. Dort ist es, was man zu wenig beachtet hat, Adolar Krola, der das Lied auf Bitten Schmidts vorträgt. Der Vorschlag Schmidts, daß Krola „das Herzenslied" Jennys „in gewissem Sinne profanieren" solle, zielt darauf ab, im „Schaustellen eines Heiligsten" (211) die verstiegenen Sentimentalitäten zu tilgen. Indem der Sänger Krola auf Geheiß des Dichters in die Rolle des lyrischen Ich schlüpft, erhält das Lied einen neuen Sinn. Die falsche Sakralisierung Jennys wird zugunsten einfacher, spontaner („Der Augenblick ist da") Herzlichkeit umfunktioniert, alle Spuren, die auf Realitätsbezüge hinter „Jennys Lied" deuten könnten, sind nun unwidersprochen gelöscht, denn Jenny ist längst nicht mehr anwesend. Sogar die Berufung auf den gattungsgeschichtlichen Stammvater der Erlebnislyrik wird zurückgenommen 24 .
3. Schliemann oder Krola?
In der Übertragung des ehemaligen Liebesgedichts auf die brüderliche Freundschaft mit Krola steckt noch weiteres Deutungspotential. Denn aus der Perspektive des Gedichts läßt sich die schwer zu entziffernde Schlußszene nicht bloß als Relativierung aller Positionen des Romans lesen, noch dazu aus dem Munde des stark alkoholisierten Schmidt und dessen universaler Negierung „alles ist Unsinn" (212) 25 . Deutet die im Hintergrund der Romangespräche aufscheinende Figur Heinrich Schliemanns eine denkbare Synthese von Besitz und Bildung an 26 , so stellt die Figur Krolas auf einer anderen Ebene einen spiegelbildlich dazu angelegten Versuch dar. In Krola kommen zwar nicht Besitz und Bildung, jedoch Besitz und Kunst zusammen. Als „Tenor und Millionär" sitzt der Hausfreund Krola in doppeltem Sinn „zwischen zwei Stühlen” (29), obwohl der Erzähler voll des Lobes für ihn ist 27 und Krola als „liebenswürdiger Mann" (24) in allen Gesellschaftskreisen zu gefallen weiß. Seine Stellung als „Sänger und Bruder" Schmidts (211) ist Signal. Denn Krolas Rolle bei den Kunstdarbietungen in den Salons war schon immer derjenigen ähnlich, die Wilibald Schmidt für sich selbst im Kreis der „Sieben Waisen" reklamiert hatte, „den denkbar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie" (61). Der Erzähler hatte Krola als ehemaligen Künstler charakterisiert, der die Prinzipien seiner Kunst nicht verraten, sondern sogar noch gesteigert hat, gerade weil dergleichen in den Kreisen des Besitzbürgertums nicht vorkommt:
Aus seinem ganzen Wesen sprach eine Mischung aus Wohlwollen und Ironie. Die Tage seiner eignen Berühmtheit lagen weit zurück, aber je weiter sie zurücklagen, desto höher waren seine Kunstansprüche geworden, so daß es ihm, bei dem totalen Unerfülltbleiben derselben, vollkommen gleichgültig erschien, was zum Vortrage kam und wer das Wagnis wagte. Von Genuß konnte keine Rede für ihn sein, nur von Amüsement, und weil er einen angeborenen Sinn für das Heitere hatte, durfte man sagen, sein Vergnügen stand jedesmal dann auf der Höhe, wenn seine Freundin Jenny Treibei, wie sie das liebte, durch Vortrag einiger Lieder den Schluß der musikalischen Soiree machte. (49)
In dieser „Mischung aus Wohlwollen und Ironie", die dem Wissen um die Unerfüllbarkeit der Kunstansprüche erwachsen ist, nimmt Krola beim Liedvortrag
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