gar keine Inhalte mehr wahr, sondern nur noch die Aufführungssituation. „Amüsement" und „Vergnügen" in der Gesellschaft sind an die Stelle des Genusses von Kunst getreten. Die Kunst, die nicht mehr stattfindet, bleibt dadurch bewahrt und vor jener „Profanierung" (211) geschützt, die Schmidt spaßeshalber genehmigt hatte. Erst unter solchen Voraussetzungen und aus dem Munde Krolas kann Schmidt sein eigenes Lied wieder so schätzen, daß er sogar von den von ihm selbst geschaffenen Sentimentalitäten übermannt wird: „Schmidt weinte vor sich hin." 28 Die dadurch ausgelöste Selbstdeutung seines Dichtens, noch dazu unter Alkoholeinfluß, entwürdigt Wilibald Schmidt keinesfalls und trübt sein Bewußtsein nur für den Augenblick: „Aber mit einem Male war er wieder da." (212) Denn selbst im Vollrausch besitzt Schmidt genug Dichterstolz und Poetenbewußtsein, wahrhaft „echte Lyrik" geschaffen zu haben:
Es ist was damit, es ist was drin; ich weiß nicht genau was, aber das ist es eben - es ist ein wirkliches Lied. Alle echte Lyrik hat was Geheimnisvolles. Ich hätte doch am Ende dabei bleiben sollen... (212)
Dem widerspricht sein Verdammungsurteil am Ende des Romans, „Geld", „Wissenschaft" und „alles ist Unsinn" keinesfalls: In seiner Aufzählung kommt die Poesie eben nicht vor! Die vielgesuchte Versöhnung von Besitz und Bildung mag sich am Ende des Romans als gebrochen und fragwürdig herausstel- len, sei es in der bildungssüchtigen Philologenexistenz Schmidts, im verlogenen Bildungsgetue Jennys oder in der vagen Hoffnung auf eine Wissenschaftskarriere beim Ehepaar Wedderkopp. Die Künstler, der arme Ex-Dichter Schmidt und der reiche Ex-Sänger Krola, triumphieren in der Besitzbürgergesellschaft durch das Mysterium des Sentimentalen, über das sie verfügen und ohne das niemand auskommt. Denn noch im trivialsten Gedicht steckt jenes Geheimnis des Poetischen, das selbst der Dichter nicht zu durchschauen vermag, und es bewahrt eine lebenslange Gestimmtheit, die den dichtenden Bildungsbürger vom poesiekonsumierenden Bourgeois unterscheidet und ihm einen weiteren Horizont öffnet:
Das Poetische - vorausgesetzt, daß man etwas anderes darunter versteht als meine Freundin Jenny Treibei -, das Poetische hat immer recht; es wächst weit über das Historische hinaus... (76).
Anmerkungen:
1 Wichtige Positionen der Forschung in Ausschnitten bei: Walter Wagner (Hrsg): Theodor Fontane, Frau Jenny Treibei. Stuttgart 1976. (= Erläuterungen und Dokumente 8132). S. 78ff; grundlegend Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975. S. 300-319; zuletzt Andreas Poltermann: „Frau Jenny Treibei" oder Die Profanierung der Poesie, in: Theodor Fontane. Sonderband. Text und Kritik. München 1989. S. 131-147.
2 Vgl. Dieter Kafitz: Die Kritik am Bildungsbürgertum in Fontanes Roman „Frau Jenny Treibel", in: ZfdPh 92 (1973), Sonderheft. S. 74-101; Lilo Grevel: „Frau Jenny Treibel". Zum Dilemma das Bürgertums in der Wilhelminischen Ära, in: ZfdPh 108 (1989). S. 191ff. 107