Heft 
(1992) 54
Seite
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3) Mullen konzentriert sich eigentlich auf die akademische Rezeption bzw. die fachwissenschaftliche Forschung der Literaturwissenschaft/Germanistik, aber behandelt kaum die professionelle Literaturkritik (literary criticism) in Amerika und verzichtet weitgehend auf eine empirisch angelegte soziologi­sche und rezeptionsästhetische Analyse der Leserforschung. - Auf Grund einer Voruntersuchung von Leselisten im Literaturunterricht (Realismus, der europäische Roman im 19. Jh.), von Leseführem wie z.B.Good Reading for Students, Teachers, Readers Everywhere" (1980) 4 sowie von einer Umfrage, die sie an fünfzehn Universitäten im Bundesstaat Ohio geschickt hat, stellt Mullen eingangs fest, daß auch unter gebildeten Amerikanern und Literatur­wissenschaftlern, d.h. Anglisten u. Amerikanisten, die Prosawerke der genannten deutschen Realisten des 19. Jhs. kaum bekannt sind (vgl. Vorwort, S. VI; S. 80 bzgl. Fontane!), eine Feststellung, die zwar (leider) nicht bestritten werden kann, aber doch nicht einfach durch langanhaltende Vorurteile in Amerika gegen die deutsche Sprache und Literatur seit dem 18. u. 19. Jh. zu erklären ist (vgl. Vorwort, S. VIII; Zusammenfassung, S. 152; s. auch Teil II unten). Mullen steht deswegen ratlos vor der Frage der allgemeinen Rezep­tion (s. auch Teil III unten), weil sie

a) im Grunde nicht über die fachwissenschaftliche Rezeption hinausgeht, die aber, wie sie im einzelnen zeigt (s. Teil II unten), im Laufe des 20. Jhs. zunehmend positiv geworden ist; 5

b) andere Faktoren, wie z.B. die traditionelle Vorrangstellung von English Departments (vor Fremdsprachenabteilungen) an amerikanischen Univer­sitäten im Bereich der Literaturinterpretation, 6 die bes. seit dem I. Welt­krieg abnehmende Bedeutung der deutschen Kultur sowie des Fremdspra­chen- (genauer: Deutschunterrichts in Amerika 7 oder die Isolation und geringe Bedeutung der amerikanischen Germanistik im akademischen und intellektuellen Leben des Landes 8 nicht historisch-kritisch in Betracht zieht;

c) zwar oft, aber nicht immer konsequent, auf frühe und moderne Überset­zungen von Werken der genannten Autoren Bezug nimmt - aber auf die eigentliche Analyse (Inhalt, Thema, Sprache, Stil, Umfang usw.) sowie auf die Rezeption dieser Übersetzungen in der amerikanischen Literaturkritik verzichtet; 9

4) Mullen unterscheidet dabei (vgl. 3) nicht zwischen der englischen und ameri­kanischen Germanistik. 10 - Materialbasis dieser Arbeit bilden Bücher, Mono­

graphien und Aufsätze, die, auch wenn in England oder Kanada veröffent­licht, auf englisch verfaßt und deshalb in Amerika zugänglich sind (vgl. Vor­

wort, S. IX/X). Aber auch wenn man pauschal von einer anglo-amerikani-

schen Tradition der Literaturkritik sprechen kann, sollte man doch sowohl in

der Kritik (Werte, Kriterien, Betrachtungsweisen, Methoden) als auch in der

Sprache überhaupt zwischen der amerikanischen und englischen Rezeption

(Forschung, Übersetzungen, Kritik) differenzieren. 11

a)Da es sich hier, wie schon gesagt, weitgehend um die Rezeption innerhalb des Faches handelt (vgl. Anm. 5 u. 8), ist der fast gänzliche Verzicht Mul- lens auf die Analyse von Forschungsbeiträgen auf deutsch, vor allem in amerikanischen Fachzeitschriften (z.B.Monatshefte",Germanic 110