Heft 
(1992) 54
Seite
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II

Während die genannten deutschen Realisten auch im späten 19. Jh. fast völlig unbekannt blieben, wurden in Amerika nicht nur die Klassiker Goethe und Schiller gelesen, sondern auch Grillparzer und Heine sowie eine ganze Reihe von Autoren (Berthold Auerbach, Freytag, Kotzebue, Marlitt, Spielhagen u.a.), die heute zum großen Teil als Unterhaltungs- oder Trivialautoren klassifiziert werden (Anm. 18). 21 Trotz Bemühungen von Gelehrten (bes. in New England) wie Ticknor, Bentley u. Longfellow um die Aufnahme von deutscher Literatur in Amerika, herrschten bis ins 20. Jh. gewisse Vorurteile gegen die deutsche Sprache und Literatur: sie sei literarisch zu schwerfällig, und die Deutschen hätten eine Neigung zum Philosophieren bzw. zur Selbstbetrachtung sowie mehr Interesse am Innenleben des Individuums als an gesellschaftlicher Erfah­rung. In der Realismusforschung im 20. Jh., vor allem in der einflußreichen Stu­die des Romanisten Erich Auerbach,Mimesis. The Representation of Reality in Western Literature" (engl. Übers., 1953; Erstausg. 1946), wurde, bes. aus Gründen des Provinzialismus u. der Sentimentalität, die deutsche realistische Literatur im allgemeinen vom europäischen Realismus des 19. Jhs. (von Auer­bach exklusiv nach dem Vorbild des franz. Realismus definiert; vgl. Aust, wie Anm. 2, S. 12) ausgeschlossen. Wenn auch in der neueren Forschung, bes. in Auseinandersetzung mit Auerbach, versucht wurde, den Anteil der deutschen realistischen Literatur am europäischen Realismus zu rechtfertigen, z.B. Rit- chie, 1966; Stern, 1964, die Innerlichkeit bzw. individuelles Erlebnis in Zusam­menhang mit Auerbachs Begriff von der problematisch-existentialistischen Darstellung niederer Gesellschaftsklassen bringen, wurden deutsche Prosawer­ke (Romane) im allg. weiterhin nicht zu den Meisterwerken des europäischen Realismus gerechnet (vgl. bes. Becker, 1963) 22 . Nur als Ausnahme, alsuntypi­scher" deutscher, d.h. als europäischer Realist, wurde ein deutscher Realist des 19. Jhs. überhaupt anerkannt - vor allem Fontane.

Unter den deutschen Realisten hat Keller am ehesten Zugang zu Lesern in England und Amerika gehabt. 23 Schon seit 1876 erschienen in englischer Übersetzung einzelne Novellen, die auch oft in Anthologien veröffentlicht wurden. Kellers Rezeption in England geht auf das Jahr 1858 zurück (vgl. George Henry Lewes'Rez. überRomeo u. Julia auf dem Dorfe" in derWest- minster Review"); Interpretationen von dieser und anderen Novellen Kellers erschienen seit der zweiten Jahrhunderthälfte in amerikanischen Zeitschrif­ten. Trotz moralischer Bedenken gegenRomeo u. Julia" in der frühen vikto­rianischen Literaturkritik (vgl. hierzu auch Tatum, wie Anm. 18, S. 126/27) wurden Kellers Novellen in Amerika hochgeschätzt, und zwar nicht nur von Lesern, die sich von der einfachen Erzählweise u. der märchenhaften Sprache Kellers angezogen fühlten, sondern auch von Literaturwissenschaftlern (vgl- bes. die einflußreichen Studien von Bennett, 1934; Silz, 1954), die Kellers Novellen für die Gipfelleistung der Gattung im 19. Jh. hielten. Dagegen wurdeDer grüne Heinrich" erst 1960 ins Englische übersetzt, als deutscher Bildungsroman, als deutsche Abart des europäischen Gesellschaftsromans abgestempelt (vgl. Pascal, 1956) und zum Nachteil Kellers mit französischen

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