Heft 
(1993) 55
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UNVERÖFFENTLICHTES / WENIG BEKANNTES

Gabriele Radecke, Mainz/ Roland Berbig, Berlin (Hrsg.) Theodor Fontane an Gustaf Friedrich Dickhuth. Fünf Briefe

1 .

Berlin 15. Novb. 96. Potsdamerstraße 134. c.

Hochgeehrter Herr Hauptmann.1

Allerhand Geschäftlichkeiten - es ist jetzt eine schlimme Zeit - haben mich noch nicht zur Lektüre der kl. Erzählung, 2 die Ihre Güte mir schickte, gelangen lassen. Ich will aber doch wenigstens ein Lebenszeichen gegeben haben und mit meinem Dank für Ihre Freundlichkeit nicht länger warten. Ich hoffe recht bald Ihre Arbeit lesen und Ihnen ein Wort drüber sagen zu können.

In vorzüglicher Ergebenheit

Th. Fontane.

2 .

Montag den 16. Novb. 96.

Die beigeschlossenen Zeilen sollten gestern Abend zur Post, aber im Laufe des Tages traf es sich, ganz gegen Erwarten, so glücklich, daß ich IhrAuf Urlaub" 3 lesen konnte und so behielt ich die Zeilen zurück und schließe sie heute nur bei, um mein Schwei­gen, das länger währte als mir lieb war, zu erklären.

Ihr kleiner Roman hat mir sehr gefallen, er ist, seiner feinen Arbeit nach, ganz Kunstwerk und weil er ganz Kunstwerk ist, bedeutet es nicht viel, daß Stoff und Figu­ren des Neuen und Besonderen entbehren. Die Figuren sind typisch und der Conflikt ist ein Lieb [lings]conflikt . 4 [über der Zeile eingefügt: Und doch, trotz alledem! 5 ] Tieck (oder vielleicht auch Goethe) hat einmal gesagtwas frisch ist, ist neu." Und frisch ist Ihre Arbeit, schon allein durch das Milieu, noch mehr durch den Pulsschlag darin. Die Lokalitäten (dasKloster" 6 ), die Situationen, die Gespräche und innerhalb der Gespräche einzelne ganz besonders glückliche Bemerkungen schaffen ein Stück neue Welt und was schließlich den siegreichen Ausschlag giebt, das ist die Gesinnung, die Wahrhaftigkeit und die Verve. Die Wahrhaftigkeit und die Verve sorgen dafür, daß gegen den Schluß hin sehr herzbewegliche Stellen kommen. 7

Nicht um zu mäkeln, sondern nur um Ihnen, hochgeehrter Herr Hauptmann, mein lebhaftestes Interesse zu zeigen, möchte ich über die junge Frau noch ein Wort sagen dürfen. Während der Konrad ganz zweifelsohne ist, begleite ich die Maria doch mit

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