Heft 
(1993) 55
Seite
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daß auch das Verhältnis von staatlichem Zentrum und Provinz anschaulich wird. Kennzeichnend für dieses Verhältnis ist weniger Polarisierung als ein lebendiges Miteinander. Man ist sich (auch räumlich) nah, und die Kommuni­kationsfäden sind vielfach verknüpft. 'Provinz', wenn man schon diesen gele­gentlich pejorativ gebrauchten Terminus benutzen will, erweist sich in Vor dem Sturm nicht als ein vom Regierungssitz her mechanisch gelenktes Teilterritori­um des Staates, sondern als organisches Glied desselben, von dem eigene Impulse ausgehen.

Nach Abschluß seines Romans wird Fontane Gutzkows Gedanken vom Roman des Nebeneinander" aufnehmen, um die Komposition seines Werkes zu erklären, die auf gleichberechtigte Darstellung der einzelnen, mannigfach zueinander in Beziehung gesetzten Lebenskreise zielt. 3 Schauplatz dieser Bezie­hungen insgesamt ist eine Region, die von denen, die in ihr leben, als gemein­same Heimat erfahren wird. Das Eintreten desgroßen Moments" stellt den Bezug dieser Welt im Kleinen zur großen Welt her, läßt sie in ihrer Qualität erst wirklich erkennbar werden, so daß schon in diesem patriotischen Roman aus der Epoche der preußischen Erhebung das Einzelne nicht ohne das Ganze, das Ganze nicht ohne das Einzelne gedacht werden kann. Familiengeschichte und individuelle Entwicklung der Romanfiguren verweisen ebenfalls immer wieder auf einen europäischen Zusammenhang. Schauplätze der Zeitgeschichte von Spanien bis Rußland (Borodino) werden in Berichten vergegenwärtigt.

Schlägt man von diesem ersten Roman Fontanes einen Bogen zum letzten, dem Stechlin, der mit ihm nach Komposition, Handlungsführung und Motivgestal­tung auffällige Übereinstimmungen zeigt, so stößt man erneut auf ein bewußt hergestelltes Spannungsverhältnis von 'Welt' und heimatlicher 'Region': sym­bolisch gestaltet im Geheimnis des Sees, ausdisputiert in zahlreichen plauder­haften Gesprächen. Auch die Handlung, die für sich genommen kein Gewicht beanspruchen kann: eine Heirats- und Sterbegeschichte, vom Autor mit den Wortenein Alter stirbt, und zwei Junge heiraten sich" lapidar zusammengefaßt, steht durchaus im Dienst der 'Botschaft' dieses, wie Fontane zu einem frühen Zeitpunkt der Niederschrift betont, politischen" Romans. 4 Allerdings scheinen die Akzente anders gesetzt:An der Themse wächst man sich anders aus als am Stechlin"', heißt es im 12. Kapitel des Romans. Dabei handelt es sich um eine Tagebucheintragung des jungen Garderittmeisters Woldemar von Stechlin über seinen Vater und über seinen künftigen Schwiegervater, einen Grafen Barby. Der engere Kontext des oft zitierten Satzes lautet:

Papa sitzt nun seit richtigen dreißig Jahren in seinem Ruppiner Winkel fest, der Graf war ebenso lange draußen! Ein Botschaftsrat ist eben was andres als ein Ritterschaftsrat, und an der Themse wächst man sich anders aus als am 'Stech­lin' - unsern Stechlin dabei natürlich in Ehren.5

Im weiteren Kontext wird zwar auch die Verwandtschaft betont, die, geistig und sogar physiognomisch, zwischen den beiden alten Adligen besteht, aber - so fährt Woldemar fort - der Graf istWeltmann, und das gibt dann den Unter­schied und das Übergewicht. Er weiß - was sie hierzulande nicht wissen oder nicht wissen wollen - daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und mitunter noch ganz andre." 6