LITERATURGESCHICHTE / INTERPRETATION
Helmuth Nürnberger, Hamburg „Der große Zusammenhang der Dinge".
'Region' und 'Welt' in Fontanes Romanen. Mit einem Exkurs: Fontane und Storm sowie einem unbekannten Brief Fontanes an Ada Eckermann
„Wat is de Welt groot, hinner Crüvitz sünn ok noch Hüser!"
Mecklenburgische Volksweisheit
1. Märkische Region und europäische Welt
„Arbeit und Inhalt meines Lebens" nennt der knapp sechzigjährige Fontane 1878 seinen ersten, während eines Zeitraums von fast 25 Jahren geplanten und ausgeführten Roman Vor dem Sturm, seine umfangreichste Prosaerzählung. 1 Er blickt zurück auf ein Werk, das geistig, formal und entstehungszeitlich den Wanderungen durch die Mark Brandenburg eng verbunden erscheint. Zwölf Jahre früher, 1866, hatte er seinem Verleger Wilhelm Hertz über Vor dem Sturm geschrieben, es handele sich bei dem Roman um ein ganz nach seiner „Neigung und Individualität" konzipiertes Vorhaben. Sollte es überhaupt ein Roman werden? Darüber hatte sich der Autor angeblich zunächst gar keine Gedanken gemacht. Das Interesse am Stoff dominiert, nur ihm - und sich selbst - will er gerecht werden:
Ohne Mord und Brand und große Leidenschaftsgeschichten, hab ich mir einfach vorgesetzt eine große Anzahl märkischer (d.h. deutsch-wendischer, denn hierin liegt ihre Eigentümlichkeit) Figuren aus dem Winter 12 auf 13 vorzuführen, Figuren, wie sie sich damals fanden und im Wesentlichen auch jetzt noch finden. Es war mir nicht um Conflikte zu thun, sondern um Schilderung davon, wie das große Fühlen, das damals geboren wurde, die verschiedenartigsten Menschen vorfand und wie es auf sie wirkte. Es ist das Eintreten einer großen Idee, eines großen Moments in an und für sich sehr einfache Lebenskreise. 2
Die skizzierte Spannung zwischen Realität und Idealität bleibt auch für den ausgeführten Roman konstitutiv, wie sehr sich auch Fontanes künstlerische Ziele während der überlangen und politisch ereignisreichen Entstehungszeit von Vor dem Sturm im einzelnen verändert haben. Die „Lebenskreise sind nicht nur durch die Personengruppierungen, also sozial und kulturell, sondern auch topographisch erkennbar begrenzt. Der Roman ist in vier Bücher eingeteilt - zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung 1878 mochte das bereits etwas altmodisch anmuten -, die nach teils realen, teils fiktiven Örtlichkeiten benannt sind. » Hohen-Vietz ", „Schloß Guse", „Alt-Berlin", „Wieder in Hohen-Vietz” lauten die Titel. Ländliches und (haupt-)städtisches Leben werden vergegenwärtigt, so
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