Heft 
(1993) 55
Seite
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Bei dieser scheinbar simplen Erkenntnis - die jedoch dasÜbergewicht" gibt - handelt es sich um eine Erfahrung, die Fontane in einem Brief aus London 1856 (also während seines mehrjährigen dritten Aufenthalts in England) Jahrzehnte früher auch für sich selbst mit annähernd den gleichen schlichten Worten reklamiert hat:Hier hab' ich nun das Leben; die Dinge selbst, nicht mehr bloß ihre Beschreibung (...), und jede Stunde belehrt den armen Balladenmacher: daß jenseits des Be rges auch Leute wohnen."7

In Enge und Weite des Blicks unterscheiden sich die Geister. Wenn im 19. Kapi- tel von Ef fi Briest in der Oberförsterei das 'Preußenlied' gesungen wird (Ich bn ein Preuße... will ein Preuße sein"), bemerkt Herr von Borcke gleich nach der ersten Strophe:Es ist doch etwas Schönes, so was hat man in anderen Ländern

nc ht, wo raufhin Innstetten antwortet:Ne in (...), in anderen Ländern hat man wa anderes.8I ns tetten spricht hier erkennbar die Meinung des Autors aus,

der sich in seinen Romanen, Reise-, Kriegs- und autobiographischen Büchern immer wieder bemüht zeigt, neben dem eigenen auch andere Völker in ihrer Eigenart zu erkennen und vorurteilsfrei zu würdigen. Allerdings hat er seinen

Botschaftsrat Barby keineswegs zufällig gerade in England angesiedelt. Die Forschung hat die besondere Bedeutung Englands für Fontane entschieden

herausgearbeitet, sie hat sie mit der Bedeutung Italiens für Goethe verglichen. 9 Differenzierend ist anzumerken: Fontanes Bild von England erscheint wesent­lich durch London vermittelt. Abgekürzt läßt sich sagen: England ist für ihn London und (wie man ergänzen mag) - Shakespeare. Daß er die Hauptstadt als für das Land repräsentativ nimmt, erscheint für ihn charakteristisch. Bewußt suchte er - wie später in Berlin - die Nähe desSchwungrades1 0 , das die politi- schen, wirtschaftlichen, kulturellen Entscheidungen in Gang setzen half. Zumindest für den jüngeren Fontane ist London politischer Mittelpunkt der Welt und - auch diese Sichtweise klingt an - die Hauptstadt einer künftigen Weltzivilisation, für die das Angelsächsische dominierend erscheint (aber eben doch noch überwiegend in der englischen, nicht in der amerikanischen Aus­prägung). Daher weisen Ansätze oder Reste von Bildungsreisen in Fontanes Erzählwerken oder -entwürfen nach England, daher steht England (London) - wie in der eingangs zitierten Passage aus dem Stechlin - stellvertretend für 'Welt'. Übrigens wird auch Woldemar von Stechlin, der im Dragonerregiment Königin von Großbritannien und Irland" dient, eine Visite in London und Windsor absolvieren. In Fontanes letztem Roman, derSumme des Gesamt- Werks" (Strech), erweist sich das England-Motiv von bestimmender Kraft, inso­fern die Verbindung des abgegrenzten heimischen Bereichs mit der 'Welt' draußen die eigentliche 'Botschaft' (und Forderung) des Romans darstellt.

In dem politischen Zeitroman, um den es sich beim St echlin d em Selbstver­ständnis seines Autors gemäß handelt, geht es erkennbar zunächst um eine gesellschaftliche Problematik, doch reicht die Bedeutung des wiederholt unter­suchten Stechlin-Symbols noch weiter. Wenn Melusine im Gespräch mit Pastor Lorenzen äußert:Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen", wenn sie ferner sagt:Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern, ist Tod"11r , so zielt sie auf nicht wenige als denunermeßlichen Kosmos der anthropologischen Möglichkeiten" (Vin­zenz) - und auf die Risiken, diese zu verfehlen. Dabei handelt es sich um ein