Heft 
(1993) 55
Seite
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In seinem vorletzten BuchIm Banne der Melusine. Theodor Fontane in sei­nem Werk" hat Paulsen zum erstenmal die Sicht auf Fontanes Werk von Innen versucht und bewiesen, daß es geht - unter der Voraussetzung, daß der Autor viel erlebt und erkannt hat, gut schreiben kann und viele Jahre daran arbeitet. So wirkt Paulsens neues Buch beinah wie eine Nachgeburt derblauen Melusi­ne". Am Anfang werden Fontanes Meine Kinderjahre als echte Autobiographie, Von Zwanzig bis Dreißig aber eher als Memoirenliteratur häufig und exempla­risch herangezogen, dann über gut hundert Seiten aus dem Spiel gelassen, um dann wieder so erwähnt zu werden, daß man auf einmal Paulsens Fontane- Beschäftigung als das heimliche Leitmotiv wiedererkennt, - obwohl der Ver­gleich mit dem Zauberer aus Bayreuth Paulsen wahrscheinlich nicht behagt. Doch genauso wie Fontane an Wagner die Kunst der Rekapitulationen lobt, die einen roten Faden durch unwegbares Gelände bereithält, so variiert Paulsen seine Titelmetapher, um das schwierige Verhältnis der Deutschen zu ihrem modernen Spiegelbild am Beispiel ihrer Schriftsteller gerechter und durchsich­tiger zu verfolgen als es jede noch so ausgeklügelte Theorie könnte. Mit schrift­stellerischen Mitteln läßt sich dieses Jahrhundert der Desillusionierungen und des mehrfachen Neubeginns zwar nicht auf einen Nenner bringen, aber tatsächlich zu faßbarer Gestalt verdichten.

Und wo Leitmotivik führt, kann Kontrapunktik nicht fehlen. Zum Spiegel der Fontaneschen Kinderjahre kommt das Sprachproblem, wie es Hugo von Hof­mannsthal in seinem berühmtenLord Chandos Brief" - zum Leidwesen man­ches Gymnasiasten - formuliert hat, als ein bei zunehmender Erfahrung und Einsicht gereiftes Gefühl, wie Sprache immer unzulänglicher, immer ver­brauchter wirken kann, bis jenes Gewissen, das Kommunikationswille heißt, sich selbst das Schweigen auferlegt. Ein spezifisch deutsches Phänomen, ver­mutet Paulsen; was ihn aber nicht daran hindert, auf diese Fragestellung immer wieder - manchmal ironisch, manchmal mitempfindend - zurückzu­kommen - eben wie zu einem zweiten Leitmotiv. Ausgerechnet in Fontanes Schreibpraxis, seine Konzepte um- und umzuarbeiten, in seinem Beharren auf dem Recht und der Notwendigkeit, die eigenen Phantasien zucorrigieren , sieht Paulsen ein Symptom des 20. Jahrhunderts, einen Vorläufer pyschoanaly- tischen Denkens. Das ist aber kein Versuch, Fontanes Biographie nach psycho­analytischem Muster zu interpretieren, sondern die Feststellung, daß dessen Werk mit der Denkweise der Zukunft bereits geformt wurde.

Äußerlich ersieht man die Zukunftsorientierung daran, daß Fontane sich gera­de jenen Auswuchs großbürgerlichen Größenwahns versagt hat, den besonders sein literarischer Patensohn Hauptmann sich partout nicht entgehen lassen wollte: das Sich-feiern-lassen als quasi gekröntert Dichter . Ja, Paulsen leg uns nahe, daß Fontane deswegen nicht zu den Jüngeren gehörte, die ihn als einen der Ihrigen feierten, und die, falls sie nicht alt wurden, entweder ihr Talent verloren oder zu Kollaborateuren dieser oder jener Art wurden, weil er deren Enkelkindern näher steht. Erst mit derNeuen Subjektivität" entstand eine Richtung, wo Fontane den Lehrmeister spielen und die Fontane-Renais­sance blühen konnte. Diese Kontrapunktik der Sprachkrisen als Triebfeder der Autobiographie geht mit dem Leitmotiv Fontane schon deswegen harmonisch

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