Heft 
(1993) 55
Seite
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fache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen" (G. Keller imGrünen Heinrich") entspreche die Fähigkeit,mit einem Minimum an direkten Aussagen über Menschen und Dinge das Einzelne genau zu kenn­zeichnen" (232). Für weniger angebracht halte ich die Hinweise sowohl auf geometrische Strukturen" (232) als auch auf impressionistische Elemente im Werke Kellers, weil sie das Bild des großartigen shakespearehaften Realismus des Schweizer Erzählers beschädigen. Fues' Fazit über Keller lautet jedoch: Aus dem Boden bereits zur Prosa geordneter Wirklichkeit wächst die Süße einer Poesie, die ihre bittre Erde nicht verleugnet, sondern in sich nimmt und bis zum Schmerz erfassen und empfinden macht. 'Ein hochgesinntes und hoch­gefährdetes Muster' (Adolf Muschg). Ein hochaktuelles und nicht aktualisier­bares" (239).

Bei Fontane gebe es zwar keine geschlossene Romantheorie, wohl aber eine Fülle theoretischer und kritischer Äußerungen zum Roman, die sich in weitge­hender Übereinstimmung mit der Romanpraxis des Schriftstellers befinden. Fues veranschaulicht Fontanes Entwicklung an den Romandefinitionen aus den Jahren 1855 und 1875, die aus Anlaß der Besprechung von Werken Gustav Freytags entstanden. Er zieht auch den reifen Romanbegriff heran, den der Autor von Irrungen, Wirrungen 1886 in der Rezension über Paul LindausDer Zug nach dem Westen" formulierte. So gelangt er zum Begriff derVer­klärung". Fues kommt dabei noch einmal abgrenzend auf denProgramm- Realismus" zurück:Will der Roman auf dem Boden einer zur Prosa geordne­ten Wirklichkeit der Poesie ihr verlorenes Recht wiedererringen, muß er die Wirklichkeit poetisieren. Tut er das, indem er die Prosa verleugnet, wie es die Programmatiker des Realismus verlangen, setzt er die Poesie an die Stelle der Prosa und wird zur Ideologie: zum Produkt und Übermittler eines falschen und verfälschenden Wirklichkeitsbewußtseins. Verklärung, wie sie Fontane handhabt, ordnet die Prosa der Poesie unter, gesteht ihr aber Widerstand und Sperrigkeit zu, wenn auch keine Übermacht" (256). Fontanes Kunst trage Störcharakter. Sie sei dersiegreichen Logik des Kapitalsnicht gefährlich, nur lästig" (258). Es sei aber die Frage, ob man solchen nicht-apologetischen Realismus noch alsbürgerlich" bezeichnen könne (259).

Der Rückblick auf dieses Kapitel ergibt, daß Adalbert Stifter eigentlich nicht in diesen realistischen Zusammenhang gehört. Fues charakterisiert den Dichter desNachsommer" und desWitiko" ja praktisch konsequenterweise als Nicht-Realisten, ähnlich wie Georg Lukács ihn aus klassisch-hegelianischen Gründen nicht dem Realismus zurechnet. Der Rückgriff am Eingang des Kapi- tels auf Friedrich Nietzsches berühmten Aphorismus ausDer Wanderer und sein Schatten", in dem Stifter neben Lichtenberg, Jung-Stilling, Goethe und Gottfried Keller zur wertvollsten deutschen Prosa gezählt wird, erweist sich als Fehlgriff, zumal Fontane trotz der verwandten Moralkritik bei Nietzsche über- haupt nicht in Erscheinung tritt.

Auf Fontane kommt Fues in der Schlußbilanz unter starker Bezugnahme auf e m einzelnes Werk zurück. Stine ist nach seiner berechtigten Ansicht bisher unterschätzt worden, wozu freilich der Dichter selber beigetragen hatte. Durch

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