Heft 
(1993) 56
Seite
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Erzählung bilden soll, daran kann kein Zweifel bestehen. Da der Text nicht ohne weiteres nachzulesen ist, sei etwas ausführlicher auf die Charakterisie­rung der Figuren durch Mann eingegangen:

Da ist

1. eine Commerzienrätin, 37 Jahre alt, schön, sie spielt die Prüde und gibt sich - zumindest nach außen hin - sittenstreng;

2. der Commerzienrat, witzig; ansonsten tritt er wenig in Erscheinung, da er mit derZerlegung des Bratens" beschäftigt ist;

3. die Schwester des Commerzienrates, 50 Jahre alt, gutconserviert"; da sie zweimal geschieden ist, hat sie Erfahrung in der Angelegenheit, die hier ver­handelt wird; sie huldigt demPessimismus" (Schopenhauerscher Prä­gung?);

4. ihre Schwägerin, zurückhaltend im Gespräch, da etwas beschränkt; allenfalls beteiligt sie sich mit nichtssagenden Redensarten und Gemeinplätzen;

5. ihre Tochter, jung, aber wohl nicht mehr ganz jung, eine sittsame, züchtige Jungfrau, deren Äußerungen aber nicht konform mit denen der übrigen Mit­glieder der Gesprächsrunde sind;

6. die Mutter des Commerzienrates, sehr alt, sehr würdig, sehr fromm; sie kennt nicht nur das achte Gebot, sondern befolgt es auch; sie übt Widerstand gegen den Klatsch in der Gesellschaft und verteidigt die Schauspielerin;

7. der Bruder des Commerzienrates, alt, ein Junggeselle mit einer bewegten, nicht tadelfreien Vergangenheit, aber mit einem guten Herzen; er lehnt den üblichen Klatsch und jeglicheTartüfferie" ab; auch er verteidigt die Schau­spielerin;

8. der Sohn des Commerzienrates, jung, unbedeutend, zurückhaltend; er ver­tritt eine kritisch reflektierte Gegenposition zu den meisten Gesprächspart­nern, beteiligt sich jedoch nicht am Gespräch. Ihm gilt offenbar Manns besonderes Interesse, wie die ausführliche Charakteristik zeigt; vielleicht können wir in ihm ein Konterfei des jungen Autors sehen.

Das sind Figurencharakterisierungen, die in ähnlicher Form auch von Fontane stammen könnten. Die Sozietät, die wir in dieser Darstellung vor uns haben, ist die sogenannte gehobene, feine Gesellschaft, die Bourgeoisie Berliner Prägung um 1890. Heinrich Mann bemüht sich, die Palette der Standpunkte und Per­spektiven breit zu streuen. Sie reicht von bornierter, konservativer, alles ver­urteilender, heuchlerischer Sittenstrenge über die Position des Alles-Verstehen- Könnens bis hin zu krasser Opposition zum konservativen Standpunkt mit quasi gesellschaftsrevolutionärem Pathos. Neben der moralisch-politischen Skala der Wertungen bildet die religiöse sowie die allgemein geistige Zuord­nung der Figuren eine andere Beurteilungsebene. Die Mutter des Kommerzien­rates vertritt das Alte, aber in einem guten, durch echte religiöse Überzeugung getragenen Sinn, der auch imstande ist, das Neue, Moderne zu verstehen und zu verzeihen. Die Schwägerin steht stellvertretend für den dumm-beschränk­ten Horizont eines standpunktlosen Mitläufertums, während der Sohn den oppositionellen Standpunkt zu den konservativen Kreisen vertritt, sich aber nicht artikulieren kann und unterdrückt wird. Derart sind die Figuren mit ihren Standpunkten abgestuft, teilweise aber auch diametral aufeinander bezogen.

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