Heft 
(1993) 56
Seite
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Das Geschehen spielt in der 'kleinen' Gesellschaft der Familie, die stellvertre­tend für die Tendenzen und Strömungen der gesamten Gesellschaft der Wilhel­minischen Ära steht.

Heinrich Mann macht durch die Charakteristik der Figuren deutlich, wie er die Gesellschaft eingeschätzt wissen will. Er geht auf Distanz zu ihr und kenn­zeichnet vorwiegend die konservative Richtung mit mehr oder weniger deutli­chen Signalen als heuchlerisch, verlogen, sittenrichterlich anmaßend, aus der Sicht des Erzählers kritisch-ironisch, so zum Beispiel, wenn er die Kommerzi- enrätin die Prüde 'spielen' läßt, die Schwester des Kommerzienrates ironisch einewürdige" Dame tituliert oder von dersittenreinen Tafelrunde" spricht, nachden zuvor die sittliche Integrität einzelner Figuren ins Zwielicht gerückt worden war.

Am Schluß wird der schweigsame, in sich gekehrte, aber kritische Sohn des Kommerzienrates als poetische Instanz entlarvt, der die Geschichte zu seiner allgemeinen Erleichterung" schriftlich fixiert, einer Erleichterung vom Druck und von der Bedrängnis einer als heuchlerisch empfundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. 16 Zugleich nimmt Heinrich Mann Gelegenheit zu einer sein Erzählverfahren charakterisierenden Äußerung, wenn er mit Blick auf das skiz­zierte epische Sujet vonverschiedenen Bilder[n]" spricht, dieunversehens zu einem Ganzen, zu einer kleinen Geschichte" zusammengefügt werden.

Was intentional von Mann hier gestaltet wird, ist eine skizzenhafte Gesell­schaftsszene, eine Bilderfolge, überwiegend in der Form des Gesprächs durch­geführt. Die Handlung wird auf ein Minimum reduziert. Das Thema ist gegen­wartsnah und aktuell und wird kritisch-ironisch beleuchtet; die typisierten Figuren dienen als Sprachrohre verschiedener gesellschaftlicher Standpunkte und Richtungen, die polyperspektivisch auf die Erörterung eines Gegenstandes bezogen sind.

Mit derartigen Erzählstrukturen - Gesellschaftsbildern - bewegt sich Heinrich Mann erstaunlich nahe an Erzählkonzepten, wie sie Theodor Fontane in seinen Gesellschaftsromanen der achtziger Jahre verwendet. Statt des Gesprächs im Familienkreis beim Diner könnte der Gegenstand in ähnlicher Weise bei einer Zusammenkunft im Gasthof oder auf einem Spaziergang, von verschiedenen Figurengruppen unternommen, gestaltet werden.

Wie wir aus brieflichen Äußerungen wissen, kannte Heinrich Mann Fontanes Roman L'Adultera und schätzte ihn.Da ist [...] Fontane's 'L'Adultera', worin das denkbar gewagteste Problem mit der denkbar größten Feinheit bearbeitet ist." 17 In diesem 1882 erschienenen Roman begegnet eine Passage, in der eben­falls eine Gruppe unterschiedlicher Figuren beim Diner zusammenkommt und w o sich deren Mitglieder über verschiedene Gegenstände ihrer Gegenwart zwanglos plaudernd unterhalten. In dem vierten, vorbereitenden KapitelDer engere Zirkel" werden diejenigen Figuren vorgestellt, gesellschaftlich einge­ordnet und mit einem Porträt versehen, die der Leser noch nicht kennt. Dann folgt der 'Aufmarsch' der Diner-Gäste: vier Herren und vier Damen, die nach einem bestimmten Sitzplan im fünften Kapitel gruppiert werden:

Alle hatten sich inzwischen placiert, und es ergab sich, daß Melanie, bei der von

ihr getroffenen Anordnung, vom Herkömmlichen abgewichen war. Van der

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