Heft 
(1993) 56
Seite
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Art hatte. Manche autobiographische Einzelheit wird in Doktor Biebers Versu­chung Eingang gefunden haben.

Diese Erzählung ist zudem eine Fundgrube an Motiven und Themen für die späteren Erzählungen und Romane von - Thomas Mann: die Sanatoriumsat­mosphäre mit ihrer Gesellschaftsdarstellung, die Thematisierung desLiebe- stodes" aus Wagners Tristan und Isolde, die Darstellung des zeittypischen Okkultismus und Magnetismus, und die Gestalt des Doktor Bieber als vorweg­nehmende Mischung aus Hofrat Behrends und Dr. Krokowski.

In verschiedenen typischen Grundsituationen entfaltet Heinrich Mann ein Gesellschaftsbild, eineBunte Gesellschaft" 21 seiner Zeit, wie es sich sympto­matisch in der Sanatoriumsgesellschaft spiegelt: im Salon, bei Tisch, im Gast­hof. Derartige Örtlichkeiten sind uns auch aus den Gesellschaftsromanen Fon­tanes vertraut. Die in dem EntwurfHabt Ihr die Geschichte von der X. gehört" nur skizzierte Gesprächssituation während eines Diners, ist in dieser späteren Erzählung nun ausgeführt. Dabei legt Mann wiederum Wert auf die Tischordnung, die in dieser Erzählung deutlicher nachzuvollziehen ist als in dem frühen Entwurf. Daß er dabei die malade Gesellschaft einerKuranstalt für leichtere Nervenkrankheiten"(470) 22 zeigt, läßt Rückschlüsse auf den ent­sprechenden Zustand der Gesellschaft seiner Zeit zu. Die erzählte Zeit dieser Novelle umfaßt nur wenige Stunden: vom späten Nachmittag bis zum Abend des ersten Tages und ungefähr eine Stunde des folgenden Morgens. Es wird nicht in die Länge, sondern in die Breite erzählt. 23 Einzelne Gesellschaftsbilder werden aneinandergereiht, in denen das Zuständliche dominiert, während die Handlung gegen Null tendiert. Erst im letzten Viertel der Erzählung kommt mit der Fahrt auf dem Tandem eine Handlung und ein Hauch von Spannung in das Geschehen, kulminierend in dem Unglücksfall, dem Sturz der Radfahren­den, der von Mann ironisierend behandelt wird, um daran erneut die Reak­tionen der Gesellschaft zu zeigen.

Gesellschaftsstudien im Sinne Zolas, des Naturalismus und Theodor Fontanes betreibt Heinrich Mann, indem er die Reaktionen der Mitglieder der Gesell­schaft im Gespräch veranschaulicht. Die Gesprächsform, nicht die Handlung, ist das entscheidende Strukturelement der Gesellschaftsnovelle Heinrich Manns. Im Gespräch werden die Gegenstände der Erzählung entfaltet, die Figuren zeigen ihre Wesenszüge und Absichten durch die Art und Weise des Austauschs von Argumenten und Meinungen. Diskussion von Standpunkten, aber auch Steigerung des Dialogs bis zu einem Höhepunkt, an dem der offene Konflikt nicht mehr zu vermeiden ist - das sind einige Kennzeichen der Gesprächsstruktur unserer Erzählung. Mit der gleitenden Perspektive als der typischen Darstellungsweise wandert der Erzähler von einer Figur zur anderen und ruft deren Ansichten über den Gesprächsgegenstand ab. Derart entsteht der für die Gesellschaftsnovelle charakteristische Polyperspektivismus. Wem die Erzählstrukturen der Gesellschaftsromane Fontanes gegenwärtig sind, dem wird bei diesen Ausführungen die Ähnlichkeit zwischen dem Erzählen Hein­rich Manns und Theodor Fontanes ins Auge fallen.

Da Heinrich Manns Erzählung bislang in der Forschung noch nicht eindring­lich interpretiert wurde, sei hier etwas ausführlicher auf einige Aspekte des Textes eingegangen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Erzählen bei-