Heft 
(1993) 56
Seite
40
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der Autoren besser erkennen zu können. Jeweils im Zentrum einer Gesell­schaftsszene - von -szene wird deshalb gesprochen, weil die betreffenden Erzählpassagen überwiegend im Dialog gehalten sind und damit eine gewisse Nähe zum dramatischen Stil erhalten - steht ein Objekt - Ereignis oder Person -, das von den Gesprächsteilnehmern von ihrem eigenen Standpunkt aus rezen­siert wird. Dabei kommt es durchaus zu kontroversen Einstellungen, die vorü­bergehend zu Spannungen, ja zur Spaltung der Kommunikation der Gesell­schaft führen können: das Experiment des Tischrückens, die Musik Wagners und die Radfahrt. Die besprochenen Gegenstände werden in der Erörterung hin und her gewendet, ohne daß ein bestimmtes Ergebnis angesteuert oder gar erzielt wird, ähnlich wie bei vielen 'Plaudereien' in Fontanes Romanen. Insge­samt aber steht jeweils Doktor Bieber, der Sanatoriumsarzt, thematisch und erzähltechnisch im Brennpunkt des Interesses der Gedanken und Meinungs­äußerungen der Sanatoriumsbewohner.

Doktor Bieber ist der bewunderte (Mode-)Arzt, der Magier, Abgott, vor allem der Damen, und der Scharlatan dieses Kreises - eine frühe Ausformung des Typus des Komödianten bei Heinrich Mann. Er bildet gleichsam den Katalysa­tor, der die Äußerungen der Gesellschaftsmitglieder hervorruft und auf diese Weise die Gesellschaftsdiagnose in Gang setzt. Er ist von Mann geschickt als zwielichtige, schillernde Gestalt konzipiert, so daß er unterschiedliche, ja gegensätzliche Bewertungen zwangsläufig provoziert. Über seine Arztrolle hinaus, die nur am Rande in Erscheinung tritt, ist er der Entertainer dieses Kreises und Favorit der Damen, Charmeur ebenso wie Spieler und Arrangeur nicht ganz durchsichtiger Begebenheiten. Vor allem aber ist er eine zeittypische Gestalt, an der verschiedene pseudophilosophische und kulturelle Strömungen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit veranschaulicht werden.

Die Reaktionen auf sein Verhalten sind ebenso an der Szene mit dem Tisch­rücken abzulesen wie an der Episode der Darbietung desLiebestodes" aus Wagners Tristan und Isolde, auf welche hier exemplarisch eingegangen werden soll. Nach dem Abenddiner läßt sich Doktor Bieber -schlank aufgerichtet in seinem engen blauen Gehrock, wand [er] sich liebenswürdig und geschickt zwischen den Tischen und Sesseln hindurch [...]"(480) - neben anderen freund­lichen Handreichungen und Gesten auch dazu herab, auf dem Klavier zu spie­len. In die bereits feierlich-erwartungsvolle, fast kultische Stille hinein phanta­siert er zunächst über einige Motive, bis er, als Einführung gleichsam, das Matrosenlied" aus Tristan anschlägt. Die Zuhörer decouvrieren sich durch ihre emotionalen, psychischen Reaktionen als Anhänger des Wagner-Kultes des ausgehenden 19. Jahrhunderts als ein kulturelles Zeitphänomen ([...] die Damen lasen einander diese Namen lautlos von den Lippen ab", 481). Die ner­vöse Spannung erhöhend, flüstert Bieber,ohne sein Spiel zu unterbrechen", in den Kreis der Zuhörerinnen hinein: 'Der Liebestod'".(481) Wenige Worte verwendet Heinrich Mann auf die Schilderung des Spieles, um so mehr dage­gen auf die Beschreibung der Wirkung. Die herrschendetiefe Stille"(481) füllt der Erzähler mit erneuten, Bieber charakterisierenden Worten, wie er das schon wiederholt bei anderen Gelegenheiten praktiziert hat. Die folgenden Äußerun­gen reichen von unterdrücktem Protest (Sägemüller) über höchste Bewunde- rung (bei den Damen Stirling und Wachtel) bis zu beginnenden nervösen